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Meinung: Mit der Freiheit eines Christenmenschen

Alle Welt rätselt: Ist Papst Benedikt XVI. Reformer oder Bewahrer? Für Joseph Kardinal Ratzinger ist das kein Widerspruch

Für Politiker aller Parteien ist es heute selbstverständlich, dass sie Veränderungen – natürlich zum Besseren hin – versprechen. Während der ehedem mythische Glanz des Wortes Revolution gegenwärtig verblasst ist, werden um so entschiedener weitgreifende Reformen verlangt und verheißen. Daraus muss man schließen, dass in der modernen Gesellschaft ein tief gehendes Gefühl des Unbefriedigtseins herrscht und dies gerade dort, wo Wohlstand und Freiheit eine bisher nicht gekannte Höhe erreicht haben. Die Welt wird als schwer erträglich empfunden, sie muss besser werden, und dies ins Werk zu setzen, erscheint als die Aufgabe der Politik. Da also nach allgemeiner Auffassung Weltverbesserung, das Heraufführen einer neuen Welt den wesentlichen Auftrag der Politik bildet, kann man auch verstehen, warum das Wort „konservativ“ anrüchig geworden ist und kaum jemand leichthin als konservativ angesehen werden will: Es geht eben, so scheint es, nicht darum, den gegenwärtigen Zustand zu bewahren, sondern darum, ihn zu überwinden.

(Nach drei Unterkapiteln über „Zwei Visionen des Auftrags der Politik: die Welt verändern oder ihre Ordnung erhalten“, „Die Wiedergeburt der apokalyptischen Strömungen im 19. Jahrhundert“ und „Die Position der Schriften des Neuen Testaments“ kommt Ratzinger zu den „Konsequenzen für den Einsatz der Christen in der Politik“.)

1. Die Politik ist das Reich der Vernunft, und zwar einer nicht bloß technisch-kalkulatorischen, sondern der moralischen Vernunft, da das Staatsziel und so das letzte Ziel aller Politik moralischer Natur ist, nämlich Friede und Gerechtigkeit. Das bedeutet, dass immer wieder die moralische Vernunft oder – vielleicht besser – die vernünftige Einsicht in das, was der Gerechtigkeit und dem Frieden dient, also moralisch ist, in Gang gebracht und gegen Verdunklungen verteidigt werden muss, die die moralische Einsichtsfähigkeit der Vernunft lähmen. Die Parteilichkeit, die sich der Macht verbündet, wird immer wieder in unterschiedlichen Formen Mythen produzieren, die sich als der wahre Weg des Moralischen in der Politik präsentieren, in Wahrheit aber Blendungen und Verblendungen der Macht sind.

Wir haben im abgelaufenen Jahrhundert zwei große Mythenbildungen mit schrecklichen Folgen erlebt: den Rassismus mit seiner verlogenen Heilsverheißung von seiten des Nationalsozialismus; die Divinisierung der Revolution auf dem Hintergrund des dialektischen Geschichtsevolutionismus’; beide Male wurden die moralischen Ureinsichten des Menschen über gut und böse außer Kraft gesetzt. Alles, was der Herrschaft der Rasse bzw. alles, was der Heraufführung der zukünftigen Welt dient, ist gut – so wurde uns gesagt –, auch wenn es nach den bisherigen Einsichten der Menschheit als schlecht zu gelten hätte.

Nach dem Abtreten der großen Ideologien sind heute die politischen Mythen weniger deutlich umschrieben, aber es gibt auch heute Formen der Mythisierung von wirklichen Werten, die gerade dadurch glaubwürdig erscheinen, dass sie sich an echte Werte heften, aber eben doch auch dadurch gefährlich sind, dass sie diese Werte in einer mythisch zu nennenden Weise vereinseitigen. Ich würde sagen, dass heute drei Werte im allgemeinen Bewusstsein führend sind, deren mythische Vereinseitigung zugleich die Gefährdung der moralischen Vernunft im Heute darstellt. Diese drei immer wieder mythisch vereinseitigen Werte sind Fortschritt, Wissenschaft, Freiheit.

Fortschritt ist nach wie vor ein geradezu mythisches Wort, das sich als Norm politischen und allgemein menschlichen Handelns aufdrängt und als dessen höchste moralische Qualifikation erscheint. Wer den Weg auch nur der letzten hundert Jahre überblickt, kann nicht leugnen, dass ungeheure Fortschritte in der Medizin, in der Technik, im Verstehen und in der Nutzung der Kräfte der Natur erzielt worden sind und weitere Fortschritte erhofft werden dürfen. Allerdings liegt auch die Ambivalenz dieses Fortschritts zutage: Der Fortschritt fängt an, die Schöpfung – die Basis unserer Existenz – zu gefährden; er produziert Ungleichheit unter den Menschen, und er produziert auch immer neue Bedrohungen von Welt und Mensch. Insofern sind moralische Steuerungen des Fortschritts unerlässlich. Nach welchen Maßstäben?

Das ist die Frage. Vor allem aber muss klar gesehen werden, dass der Fortschritt sich ja auf den Umgang des Menschen mit der materiellen Welt erstreckt und nicht als solcher – wie Marxismus und Liberalismus gelehrt hatten – den neuen Menschen, die neue Gesellschaft hervorbringt. Der Mensch als Mensch bleibt sich in primitiven wie in technisch entwickelten Situationen gleich und steht nicht einfach deshalb höher, weil er mit besser entwickelten Geräten umzugehen gelernt hat.

Das Menschsein beginnt in allen Menschen neu. Deswegen kann es die endgültig neue, fortgeschrittene und heile Gesellschaft nicht geben, auf die nicht bloß die großen Ideologien gehofft haben, sondern die – nachdem die Hoffnung auf das Jenseits abgebaut wurde – immer mehr zum allgemeinen Hoffnungsziel wird. Eine endgültig heile Gesellschaft würde das Ende der Freiheit voraussetzen.

Weil aber der Mensch immer frei bleibt, in jeder Generation neu beginnt, darum muss auch die rechte Form der Gesellschaft immer neu in den je neuen Bedingungen errungen werden. Das Reich der Politik ist deshalb die Gegenwart und nicht die Zukunft – die Zukunft nur insoweit, als die heutige Politik Formen des Rechts und des Friedens zu schaffen versucht, die auch morgen standhalten können und zu entsprechenden Neugestaltungen einladen, die das Errungene aufnehmen und fortführen.

Aber garantieren können wir das nicht. Ich denke, dass es sehr wesentlich ist, diese Grenzen des Fortschritts ins Bewusstsein zu rücken und falsche Ausflucht in die Zukunft abzubauen.

An zweiter Stelle nenne ich den Begriff Wissenschaft. Wissenschaft ist ein hohes Gut, gerade deshalb weil sie kontrollierte und von Erfahrung bestätigte Form von Rationalität ist. Aber es gibt auch Pathologien der Wissenschaft, Verzwecklichung ihres Könnens für die Macht, in denen zugleich der Mensch entehrt wird. Wissenschaft kann auch der Unmenschlichkeit dienen, ob wir an die Massenvernichtungswaffen denken oder an Menschenversuche oder an die Behandlung des Menschen als Organvorrat usw. Deswegen muss klar sein, dass auch die Wissenschaft moralischen Maßstäben untersteht und ihr wahres Wesen immer dann verloren geht, wenn sie sich statt der Menschenwürde der Macht oder dem Kommerz oder einfach dem Erfolg als einzigem Maßstab verschreibt.

Schließlich steht da der Begriff der Freiheit. Auch er hat in der Neuzeit vielfach mythische Züge angenommen. Freiheit wird nicht selten anarchisch und einfach antiinstitutionell gefasst und wird damit zu einem Götzen: Menschliche Freiheit kann immer nur Freiheit des rechten Miteinander, Freiheit in der Gerechtigkeit sein, andernfalls wird sie zur Lüge und führt zur Sklaverei.

2. Das Ziel aller immer von neuem nötigen Entmythisierungen ist die Freigabe der Vernunft zu sich selbst. Hier muss aber noch einmal ein Mythos entlarvt werden, der uns erst vor die letzte entscheidende Frage vernünftiger Politik stellt: Der Mehrheitsentscheid ist in vielen Fällen, vielleicht in den allermeisten der „vernünftigste“ Weg, um zu gemeinsamen Lösungen zu kommen. Aber die Mehrheit kann kein letztes Prinzip sein; es gibt Werte, die keine Mehrheit außer Kraft zu setzen das Recht hat. Die Tötung Unschuldiger kann nie Recht werden und von keiner Macht zu Recht erhoben werden. Auch hier geht es letztlich um die Verteidigung der Vernunft: Die Vernunft, die moralische Vernunft, steht über der Mehrheit. Aber wie können diese letzten Werte erkannt werden, die die Grundlage jeder „vernünftigen“, jeder moralisch rechten Politik sind und daher über allen Wechsel der Mehrheiten hinaus alle binden? Welche Werte sind das?

Die Staatslehre hat sowohl im Altertum und Mittelalter wie gerade auch in den Gegensätzen der Neuzeit an das Naturrecht appelliert, das die recta ratio erkennen kann. Aber heute scheint diese recta ratio nicht mehr zu antworten, und Naturrecht wird nicht mehr als das allen Einsichtige, sondern eher als eine katholische Sonderlehre betrachtet. Dies bedeutet eine Krise der politischen Vernunft, die eine Krise der Politik als solcher ist. Es scheint nur noch die parteiliche Vernunft, nicht mehr die wenigstens in den großen Grundordnungen der Werte gemeinsame Vernunft aller Menschen zu geben.

An der Überwindung dieses Zustandes zu arbeiten, ist eine vordringliche Aufgabe aller, die für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt Verantwortung tragen – und das sind wir im letzten doch alle. Dieses Mühen ist keineswegs aussichtslos, eben deshalb nicht, weil die Vernunft sich selbst immer wieder gegen die Macht und die Parteilichkeit zu Worte melden wird.

Es gibt heute einen veränderten Wertekanon, der praktisch nicht bestritten ist, aber allerdings zu unbestimmt bleibt und blinde Stellen aufweist. Die Trias Friede, Gerechtigkeit, Bewahrung der Schöpfung ist allgemein anerkannt, freilich inhaltlich völlig unbestimmt: Was dient dem Frieden? Was ist Gerechtigkeit? Wie bewahrt man die Schöpfung am besten? Andere praktisch allgemein anerkannte Werte sind die Gleichheit der Menschen gegenüber dem Rassismus, die gleiche Würde der Geschlechter, die Freiheit des Denkens und des Glaubens. Auch hier gibt es inhaltliche Undeutlichkeiten, die sogar wieder zur Bedrohung der Freiheit des Denkens und des Glaubens werden können, aber die Grundrichtungen sind zu bejahen und sind wichtig.

Ein wesentlicher Punkt bleibt kontrovers: das Recht zu leben für jeden, der Mensch ist, die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens in allen seinen Phasen. Im Namen der Freiheit und im Namen der Wissenschaft werden hier immer mehr gravierendere Lücken in dieses Recht gerissen: Wo Abtreibung als Freiheitsrecht angesehen wird, ist die Freiheit des Einen über das Lebensrecht des Anderen gestellt. Wo Menschenversuche mit Ungeborenen im Namen der Wissenschaft eingefordert werden, ist die Würde des Menschen in den Wehrlosesten geleugnet und getreten. Hier müssen die Entmythisierungen der Begriffe Freiheit und Wissenschaft Platz greifen, wenn wir nicht die Grundlagen allen Rechts, die Achtung vor dem Menschen und seiner Würde verlieren wollen.

Ein zweiter blinder Punkt besteht in der Freiheit, das zu verhöhnen, was anderen heilig ist. Gottlob kann sich bei uns niemand erlauben, das zu verspotten, was Juden oder was Moslems heilig ist. Aber zu den grundlegenden Freiheitsrechten zählt man das Recht, das Heilige der Christen in den Staub zu ziehen und mit Spott zu überschütten. Und endlich ist da ein weiterer dunkler Punkt: Ehe und Familie erscheinen nicht länger als grundlegende Werte einer modernen Gesellschaft. Eine Vervollständigung der Wertetafel und eine Entmythisierung von mythisch entstellten Werten ist dringend geboten.

Bei meinem Disput mit dem Philosophen Arcais de Flores kam gerade dieser Punkt – die Grenze des Konsensprinzips – zur Sprache. Der Philosoph konnte nicht leugnen, dass es Werte gibt, die auch für Mehrheiten nicht zur Debatte stehen dürfen. Aber welche?

Angesichts dieses Problems hat der Moderator des Disputs, Gad Lerner, die Frage gestellt: Warum nicht den Dekalog zum Maßstab nehmen? Und in der Tat – der Dekalog ist nicht ein Sonderbesitz der Christen oder der Juden. Er ist ein höchster Ausdruck moralischer Vernunft, der sich als solcher weithin auch mit der Weisheit der anderen großen Kulturen trifft. Am Dekalog wieder Maß zu nehmen, könnte gerade für die Heilung der Vernunft, für das neue Aktivwerden der recta ratio wesentlich sein.

Hier wird nun auch deutlich, was der Glaube zur rechten Politik beitragen kann: Er ersetzt nicht die Vernunft, aber er kann zur Evidenz der wesentlichen Werte beitragen. Durch das Experiment des Lebens im Glauben gibt er ihnen Glaubwürdigkeit, die dann auch die Vernunft erleuchtet und heilt. Im vergangenen Jahrhundert hat – wie in allen Jahrhunderten – gerade das Zeugnis der Martyrer die Ekzesse der Macht begrenzt und so entscheidend zur Genesung der Vernunft beigetragen.

Der Text ist ein Auszug aus: Joseph Kardinal Ratzinger. Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen. Herder Verlag Freiburg 2005.

Joseph Ratzinger

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