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Mon BERLIN: Mit Dostojewski unter die Bettdecke

Eine junge Frau in Shorts wanderte mit ruhigen Schritten auf die U-Bahntreppe zu. Sie las im Gehen. Sie war woanders, Lichtjahre von der Berliner Alltagsgeschäftigkeit entfernt.

Als ich gestern aus dem Haus trat, wurde ich von einer heftigen Nostalgiewoge erfasst. Eine junge Frau in Shorts, die Haare offen im Wind, wanderte mit ruhigen Schritten auf die U-Bahntreppe zu. Vor ihrer Brust bildete ihre Umhängetasche eine Art Plateau, auf das sie ein aufgeschlagenes Buch gelegt hatte. Sie las im Gehen. Wie eine Seiltänzerin ging sie den Bürgersteig entlang, langsam, gleichmäßig, ohne zu stolpern. Sie wirkte ernst, sie war völlig in einen Roman versunken, dessen Titel oder Autor ich nicht entziffern konnte. Sie war woanders, Lichtjahre von der Berliner Alltagsgeschäftigkeit entfernt. Sie ignorierte den Gemüsehändler, der gerade seine Birnenkisten arrangierte. Sie prallte fast mit dem Briefträger zusammen. Sie war zu Besuch in einem fremden Leben.

Während ich sie so beobachtete, stieg eine große Traurigkeit in mir auf. Dieses zugleich unerträgliche und zärtliche Gefühl beim Gedanken an die für immer vergangenen Zeiten. Im Kielwasser der Leserin erinnerte ich mich daran, wie auch ich ganze Tage mit Lesen zugebracht hatte. Als junges Mädchen die Nachmittage in der schweren Hitze auf der Schwimmbadwiese. Die ersten Monate bei der BBC in London, nachts arbeiten und tagsüber, zu aufgekratzt zum Schlafen, Dostojewski lesen. Für immer bleiben die Brüder Karamasow mit der wattigen Müdigkeit und dem Geruch nach Baked Beans verbunden, die meine Mitbewohner in der Küche schlürften. Mir fielen all diese Romane ein, die man nicht mehr aus der Hand legen kann. Man nimmt sein Buch mit an den Esstisch, auf die Toilette, in die U-Bahn. Man freut sich darüber, dass eine schlaflose Nacht zusätzliche Stunden gewährt. Man wird menschenscheu, sogar ein wenig autistisch. Nichts anderes existiert mehr auf der Welt.

Ganz bestimmt will ich hier nicht in das bittere Klagelied derjenigen einstimmen, die die Vergangenheit idealisieren: Es gab nur drei Fernsehkanäle, das Programm begann am späten Nachmittag und endete um Mitternacht. Es gab kein Internet, kein Google und Facebook, keine Handys, keinen iPod und kein iPad und andere Geräte zum Zeitzertrümmern. Viele Erwachsene meiner Generation lesen nur noch im Urlaub. Sie haben keine Zeit mehr. Sie können sich nicht mehr konzentrieren. Wie jedes Jahr vor der Frankfurter Buchmesse singen die Kassandren ihre düsteren Chöre.

Viel eher ergreift mich plötzlich ein Impuls, eine vergnügte Rebellion, auf dem Trottoir, wo ich noch lange stehen geblieben bin, nachdenklich, während das Mädchen die Augen vom Buch nahm und die U-Bahntreppe hinuntersprang. Können wir denn gar nicht mehr über unser Geschick bestimmen? Muss man sich widerstandslos vom Zeitgeist mitreißen lassen? Sich von jedem neuen Gadget verführen lassen, der unsere Tage auffrisst? Warum nicht reagieren? Warum nicht entscheiden: Heute lese ich nicht so, wie ich zwischen den Fernsehsendern zappe – nämlich zwei Seiten im Bus, eine vor dem Einschlafen. Heute lese ich in einem Zug, ohne Unterbrechung.

Ich bin mir nicht sicher, ob der Balanceakt der jungen Frau die beste Lösung ist. Immerhin läuft sie Gefahr, irgendwann mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus zu landen. Da habe ich einen besseren Vorschlag: Warum nicht eines Morgens beschließen, dass man den ganzen Tag mit einem Buch im Bett verbringt. Wie früher. Zum Beispiel einen Sonntag. Man braucht Mut für ein solches Experiment: Man muss gegen das schlechte Gewissen ankämpfen, die „To-do-Liste“ vergessen, die auf dem Schreibtisch röchelt, man muss sich gegen die gebieterischen Stimmen auf dem Anrufbeantworter taub stellen und die Mails ihrem Schicksal überlassen. Vor allem darf man nicht auf den Vorwurf der Faulheit aus der Umgebung hören. Was, hast du wirklich nichts Besseres zu tun, als im Bett zu liegen? Schämst du dich nicht, wo alle anderen arbeiten? Du bist ja nicht mal krank!

Aber sobald Sie über dieses moralische Bollwerk gesprungen sind, welch ein Genuss … diese unendliche Kette aus Wörtern. Die Wärme der Laken. Die Stille in der verlassenen Wohnung. Stunde um Stunde.

Aber Vorsicht: Ein Tag im Bett, das ist keine spontane Entscheidung. Das will gut organisiert sein. Telefon und Handy abstellen. Den Kühlschrank füllen, denn Lesen macht hungrig. Ich erinnere mich an das Magenknurren, als ich die Beschreibung des Frühstücks (ohne Baked Beans!) in Hans Castorps Sanatorium las. Man muss genug Tee kochen, mindestens zwei Mahlzeiten fertig vorbereiten, dazu feine Schokolade. Und natürlich muss man den passenden Gefährten wählen. Schließlich lädt man ja nicht jeden Autor unter seine Bettdecke ein.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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