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Meinung: Mitleid mit den Opfern

Kein Befreier: Stalin war schon vor dem Krieg ein Unterdrücker Von Hubertus Knabe

War Stalin ein Befreier? Nicht nur in Berlin, sondern europaweit hat diese Frage zu heftigen Debatten geführt. Während der russische Präsident Wladimir Putin den 60. Jahrestag des Kriegsendes mit einer Militärparade im Sowjetstil feiern ließ, machten die baltischen Staaten deutlich, dass der 8. Mai 1945 für sie nur den Beginn einer neuen Unfreiheit markierte.

In Deutschland neigen viele dazu, auch Stalin in den Kreis der Befreier mit aufzunehmen. Sie verweisen auf den Anteil der Roten Armee am Sieg der Alliierten und darauf, dass das Morden in den Konzentrationslagern damals ein Ende fand. Sie vergessen dabei, dass Stalin nicht in Deutschland einmarschierte, um den Deutschen oder ihren Opfern die Freiheit zu bringen. Seinen Sieg über Hitler nutzte er vielmehr nur dazu, halb Europa seinem eigenen Terrorregime zu unterwerfen. Viele Konzentrationslager – ob Jamlitz, Buchenwald oder Sachsenhausen – waren bald erneut voller Häftlinge, von denen ein Drittel darin umkam.

Wer daran erinnert, dem wird oft entgegengehalten, dass diese Entwicklung doch eine Folge der zuvor von Deutschland verübten Verbrechen gewesen sei. Dabei wird übersehen, dass Stalin für Massenmord und Terror nicht Hitler als Begründung brauchte. Sein grausames Regime, dem etwa zwanzig Millionen Menschen zum Opfer fielen, erreichte bereits während der „Großen Säuberung“ von 1936 bis 1938 einen schrecklichen Höhepunkt.

Verdrängt wird in Deutschland auch, dass Hitler und Stalin bei Ausbruch des Krieges nicht Gegner, sondern Verbündete waren. Trotz eines Nichtangriffsvertrages marschierten im September 1939 auch über eine Million Rotarmisten in Polen ein. Mehr als 230 000 polnische Soldaten wurden gefangen genommen, fast zwei Drittel von ihnen kamen ums Leben. Die UdSSR eignete sich über 50 Prozent des polnischen Staatsgebietes an und deportierte annähernd eine Million Zivilisten. Im November griff sie auch noch Finnland an, im Juni 1940 besetzte sie Estland, Lettland und Litauen, im Juli Bessarabien und die Bukowina. Die Freundschaft zwischen den beiden Diktaturen wurde nicht von Stalin aufgekündigt. Als die Wehrmacht im Juni 1941 in die Sowjetunion einmarschierte, empfanden dies viele zunächst als Befreiung vom kommunistischen Terror. Neben 900 000 Deutschstämmigen wurden daraufhin fast eine Million Kaukasier, Krimtataren, Kalmücken und weitere Nationalitäten deportiert, weil Stalin sie kollektiv der Kollaboration beschuldigte. Hunderttausende Männer, Frauen und Kinder starben noch auf den Transporten oder in der Verbannung.

Als die Rote Armee die Deutschen zurückgeworfen hatte, ging eine zweite Säuberungswelle über den Osten Europas hinweg. In der Ukraine und im Baltikum wurden fast 700 000 Menschen verhaftet, verschleppt oder umgebracht. In Polen wurde vor allem die Heimatarmee, die gegen die Deutschen gekämpft hatte, verfolgt. In Deutschland zogen Zehntausende sowjetische Geheimpolizisten ein und verhafteten etwa 350 000 Zivilisten, von denen knapp die Hälfte zur Zwangsarbeit verschleppt wurde. Dasselbe Schicksal erlitten über drei Millionen deutsche Kriegsgefangene, von denen mehr als eine Million umkam. Stalins Terror in den eroberten Gebieten war keine Reaktion auf die nationalsozialistische Gewaltherrschaft. Auch Hunderttausende befreite sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter fielen ihm zum Opfer, weil Stalin sie für Verräter hielt. Sogar der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Erich Nehlhans, wurde verhaftet und in das ehemalige KZ Sachsenhausen gesperrt; er starb in einem sowjetischen Arbeitslager.

Die lettische Präsidentin Vaira Vike-Freiberga hat die Welt daran erinnert, dass Stalin kein Befreier war – auch wenn er den Nationalsozialismus besiegen half. Die Deutschen hingegen müssen erst noch lernen, dass, wer von den Verbrechen Hitlers spricht, über die Untaten Stalins nicht schweigen kann. Ihr Mitgefühl mit den Opfern des NS-Regimes ist nur dann glaubwürdig, wenn es die des Kommunismus mit einschließt.

Der Autor ist Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Von ihm erschien gerade bei Propyläen „Tag der Befreiung?“.

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