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Meinung: Mitten in der Gesellschaft

Warum die sizilianische Mafia trotz der Verhaftung vieler Bosse weiter lebt

Die Cosa Nostra „steht mittlerweile in derart vielfältigen Interessensbeziehungen zu allen Teilen der Bevölkerung; derart zahlreiche Personen sind ihr verpflichtet – aus Dankbarkeit für erwiesene Dienste oder in Hoffnung auf neue –, dass die Mafia heute unendlich viele Möglichkeiten der Einflussnahme hat, auch abseits von Terror und Gewalt, selbst wenn ihre Existenz genau darauf aufbaut“. So schreibt der Politologe Leopoldo Franchetti – im Jahre 1876. Es ist im Jahr 2010 so aktuell wie eh und je. Das heißt: Die sizilianische Mafia ist ein verwurzeltes, ein umfassendes Phänomen. Sie rottet man auch dann nicht aus, wenn man – wie Polizei und Justiz nun in einer Erfolgsserie ohnegleichen – eine ganze Generation großer Bosse einsperrt und die nachfolgende dezimiert. Die Cosa Nostra, das ist nicht nur eine Bande von Kriminellen, die in Hinterzimmern Verbrechen ausheckt. Die sizilianische Mafia durchdringt Wirtschaft und Alltag so, dass sie zu einer Lebensweise, einer Art Gesellschaftssystem geworden ist. Und wenn italienische Regierungspolitiker sich nach den jüngsten Verhaftungen selbst loben, sie hätten der Mafia „einen weiteren Todesstoß versetzt“, dann geben sie damit zu, dass die Cosa Nostra schon andere „Todesstöße“ überlebt hat.

Im April 2006 ist, nach 43-jährigem Versteckspiel, Bernardo Provenzano als „Boss der Bosse“ verhaftet worden. Danach räumte Italiens Polizei die mittlere Führungsebene und die Aufsteiger ab. Mit atemberaubender Präzision ging das Schlag auf Schlag. Doch der erwartete, viel beschworene „Aufstand der Bevölkerung“ gegen die Restmafia blieb aus.

Mag sein, dass viele dem staatlich ausgerufenen Frieden noch nicht trauen. Insgesamt aber wird das „Joch der Mafia“ nicht als sehr schwer empfunden. Schließlich ist die Schutzgeldforderung nicht nur Machtspiel und Erpressung. Wer Schutzgeld zahlt, erkauft sich Vorteile. Er tritt ein in ein großes Beziehungsnetz, das ihm Ruhe garantiert vor Kleinkriminellen und vor Konkurrenz, das ihm einen Job verschafft für seinen Sohn, einen Parkplatz sichert oder eine Genehmigung der Stadt für dies und jenes – ein Papier, das einer auf dem regulären Dienstweg erst nach Jahren bekäme.

An staatliche Bauaufträge oder europäische Fördermillionen kommt oft nur heran, wer in solche Beziehungsnetze eingebunden ist, wer die entsprechende Provision abführt, wer Personal beschäftigt, das ihm der Mafioso vom Dienst „empfiehlt“ oder Unteraufträge an Firmen weitergibt, die gleich ganz der Mafia gehören. Es sind die Verbindungsleute zwischen Legalität und Illegalität, die nach dem Ende der Bosse das Netz zusammenhalten, äußerlich unverdächtige Steuerberater, Anwälte, Architekten; es ist die „gutbürgerliche Grauzone“, die die Mauern jenes Mafiagebäudes stützt und die sich oft genug hinter „der“ Mafia versteckt, um ihre eigenen Geschäfte zu betreiben.

Sizilien leidet nicht an der Cosa Nostra. Es fehlt, ganz elementar, die Kultur der Legalität. Sie zu schaffen, ist mehr als eine Jahrhundertaufgabe – und die Verhaftung der Bosse dagegen beinahe ein Kinderspiel.

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