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Meinung: Mittwoch ist jeden Nachmittag

Von Pascale Hugues Nachmittags gehen Karl und Inge Schmidt nicht in die Schule. Sie spielen Volleyball und Klarinette oder besuchen ihre Schulkameraden mit der adretten und fürsorglichen Mutti Schmidt im Schlepptau, die sie zu all ihren Kursen und Treffen chauffiert; abends nimmt sie ihre tadellose Küche in Besitz, bindet eine Schürze um die Wespentaille und belegt gesunde Schwarzbrot-Schnitten.

Von Pascale Hugues

Nachmittags gehen Karl und Inge Schmidt nicht in die Schule. Sie spielen Volleyball und Klarinette oder besuchen ihre Schulkameraden mit der adretten und fürsorglichen Mutti Schmidt im Schlepptau, die sie zu all ihren Kursen und Treffen chauffiert; abends nimmt sie ihre tadellose Küche in Besitz, bindet eine Schürze um die Wespentaille und belegt gesunde Schwarzbrot-Schnitten. Das ist die Retro-Vision eines deutschen Nachmittags, wie sie mein Deutschbuch am Gymnasium darstellte. Erst ein halber Tag maßvoller Anstrengung, dann ein halber Tag wohlverdienten Nichtstuns. Während wir französischen Kinder morgens Victor Hugo büffelten und uns nachmittags in Begleitung der heiligen Familie Schmidt mit den Feinheiten des Genitivs amüsieren durften.

Die Schultage in Frankreich – von 8 Uhr 30 bis 16 Uhr – sind die längsten in Europa. Der Mittwoch als schulfreier Tag ist ein einmaliges Phänomen: Das Gesetz über die laizistische Schule von 1894 reservierte einen Tag der Woche für religiöse Unterweisung. Die kleinen Französinnen aus den privilegierten Schichten üben sich mittwochs im Ballett, die Jungen in Kampfsportarten, begleitet von der afrikanischen Babysitterin. Die Väter und Mütter arbeiten und kommen erst zum Abendessen nach Hause. Die Kinder aus weniger begüterten Familien sitzen vorm Fernseher oder hängen am Gameboy.

Ich habe meine Zweifel, dass die deutsche Wirklichkeit heute auch nur irgendetwas gemeinsam hat mit den idyllischen Nachmittagen meines Schulbuchs aus den 70er Jahren. Die soziale Ungleichheit des Mittwochs in Frankreich wiederholt sich hier zu Lande vielmehr Nachmittag für Nachmittag. Es gibt Mütter, die nicht arbeiten (müssen) und ihre Zeit wie Frau Schmidt vollständig ihren Kindern widmen – aber das ist heute eine Minderheit. Es gibt akrobatische Eltern, die es mit Hilfe von Babysittern und Großeltern recht und schlecht hinkriegen, eine Beaufsichtigung ihrer Kinder zu organisieren. Und dann ist da noch die vergessene Mehrheit, die weder das Geld für Babysitter hat noch Großeltern, die die Kleinen von der Schule abholen. Am Nachmittag sind die sich selbst ausgeliefert.

Ein schulfreier Nachmittag kann vieles bedeuten: mehr Kultur und mehr Lernen oder mehr Fernsehen und mehr Straße. Wie kann eine Erziehungspolitik, die vorgibt, gegen die Schulmisere zu kämpfen, eine solche Situation zulassen, die die zerbrechlichsten Schüler bestraft?

Die Pisa-Studie hat gezeigt: Wenn Deutschland sich für eine Ganztagsschule hoher Qualität entscheidet, die den Kindern die Möglichkeit sowohl zur Wissensbereicherung als auch zur Entspannung bietet, wird es beim nächsten Test wieder zur internationalen Spitzengruppe aufschließen können.

Für Deutschland ist die Ganztagsschule eine Revolution. Für alle anderen europäischen Länder eine Normalität, die sie nie in Frage gestellt haben.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point". Foto: privat

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