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Mon BERLIN: Auch der Weihnachtsmann muss mal

Alle Jahre wieder: Bis auf den letzten Drücker warten, die gefütterten Stiefel anziehen, in den Bus springen, die Ellbogen einsetzen, um einen dünnen Korridor in der dichten Menge auf dem Trottoir zu bilden, mit einer energischen Geste die Flügeltür aufreißen – und voilà, die edelste Tanne Berlins, der Weihnachtsbaum im KaDeWe. Er prunkt in der Eingangshalle, mitten in einem Delirium von Kugeln, Girlanden, Sternen, Kerzen, Porzellanfigürchen und Lebkuchen.

Alle Jahre wieder: Bis auf den letzten Drücker warten, die gefütterten Stiefel anziehen, in den Bus springen, die Ellbogen einsetzen, um einen dünnen Korridor in der dichten Menge auf dem Trottoir zu bilden, mit einer energischen Geste die Flügeltür aufreißen – und voilà, die edelste Tanne Berlins, der Weihnachtsbaum im KaDeWe. Er prunkt in der Eingangshalle, mitten in einem Delirium von Kugeln, Girlanden, Sternen, Kerzen, Porzellanfigürchen und Lebkuchen. Und nie wird man enttäuscht: jedes Jahr ein bisschen größer, ein bisschen prächtiger. In diesem Jahr ist er mit einer Schicht künstlichen Schnees überzogen, so dicht, dass man das Grün der Zweige nicht mehr sieht. Ich wette, dass er nächstes Jahr die Decke durchstößt.

Sich den KaDeWe-Weihnachtsbaum anzugucken, ist ein bedeutendes Ereignis im gesellschaftlichen Kalender der Berliner, vergleichbar mit dem Sommerkonzert der Philharmoniker in der Waldbühne und dem Feuerwerk am Brandenburger Tor in der Silvesternacht.

Wellen von Kunden rollen heran und brechen sich am Fuß des Baumes wie der Ozean an einer Steilküste. Tropische Hitze. Es riecht nach einem Potpourri aus Zimtduft und säuerlichem Schweiß. In einer Endlosschleife und in allen Sprachen erbricht ein Lautsprecher ein nervtötendes Weihnachten … last Christmas … Noël Noël ... Es gibt Pelzmäntel, echte (aus Düsseldorf) und falsche (aus Spandau).

Doreens Ehemann fotografiert seine winzige Frau vor dem gigantischen Baum. Der große Melting Pot des KaDeWe sitzt zu dritt auf einer Holzbank. „Doreen war ja da jewesen!“, sagt die Berlinerin. „Die Backwaren sind der Hammer! Sehr interessant!“, sagt die Hessin. „’s isch fast a bissele too much!“ der anglisierte Schwabe. Ein Kanon von ei, gell, icke, ha noi, gude Weihnacht.

Doch unerwartet ein falscher Ton. Die Hauptperson fehlt. Der Sessel des Weihnachtsmannes vor dem Baum ist leer. „Kommt er heute nicht?“, erkundigt sich ein beunruhigter Vater, den kleinen Sohn an der Hand. „Aber, sehr jeehrter Herr“, antwortet der Wachmann, „der Weihnachtsmann muss ooch mal!“

Agnostisch und bodenständig, wie der Berliner nun mal ist, schafft er es, in wenigen Sekunden einen der großen Mythen der Menschheit zu zertrümmern. Ich stelle mir den Weihnachtsmann vor, wie er, die Hose wie eine Ziehharmonika um die Knöchel, auf der Klobrille sitzt. Stopp! Ein heftiger Schmerz durchzuckt mich. Wie am Tag, wenn die Kinder erfahren, dass es keinen Weihnachtsmann gibt. Dieser zugleich wunderbare und schreckliche Tag. Wunderbar, weil man endlich für würdig erachtet wird, in den Clan der eingeweihten Erwachsenen aufgenommen zu werden. Schrecklich, weil man für immer aus der Traumwelt vertrieben wird. Ich erinnere mich, dass ich in jener Nacht fassungslos in mein Kissen geweint habe. Weihnachten hatte seinen Glanz verloren.

Plötzlich erscheint der sichtlich erleichterte Weihnachtsmann hinter mit Kunstschnee bedeckten Lianen aus Plastikefeu. Er ist groß, imposant, würdig, er hat eine tiefe Stimme und einen weihevollen Blick. Von der Holzbank ein kleiner Schrei der Bewunderung. Aber was ist das?! Der Weihnachtsmann ist weiß gekleidet. Er trägt einen weiten, weißen, mit Brillanten übersäten Mantel – einen Mantel à la Thomas Gottschalk in seinen besseren Tagen, vergoldete Cowboystiefel, einen spektakulären Schnauzbart und einen langen Pferdeschwanz.

Ich bin verwirrt. Doreen sieht die Sache nicht so eng: „Für sich is er rot, aber weiß is ooch recht!“ Unter dem weit offenen Hemd erspähe ich eine solariumgebräunte Brust und einen Haarteppich. Der Weihnachtsmann, ganz Glitzer und Virilität, tritt auf wie ein alternder Playboy. „Rot“, erklärt er voll Verachtung, „ist die Farbe meines Coca-Cola-Kollegen von 1931. Im KaDeWe gibt’s das nicht.“ Es ist die Antwort eines Mannes, der sich seines Ranges gewiss ist.

Und das ist der Ablauf: Zuerst trifft sich die Brigade der KaDeWe-Dekorateure und legt die Ausstattung fest. In diesem Jahr ein mittelalterliches Dorf im Winter: ein gefrorener Springbrunnen, vom Schnee gebeugte Bäume, Pfau. Vorherrschende Farbe: weiß. „Erst die Deko, dann wird mein Kostüm abgestimmt!“, erklärt der Weihnachtsmann. Weiß der Schnee auf dem Weihnachtsbaum. Der Weihnachtsmann ist Ton in Ton, wie daheim in Doreens Wohnzimmer die Vorhänge und die Tapeten.

Joyeux Noël!

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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