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Meinung: MON BERLIN Das Buch der Straße

Von Pascale Hugues Berlin ist ein Buch. Wie ein dickes Register voller dringender Nachrichten lässt sich diese Stadt durchblättern, wie ein Lexikon der Liebeserklärungen, ein Kompendium autoritärer Kommandos.

Von Pascale Hugues

Berlin ist ein Buch. Wie ein dickes Register voller dringender Nachrichten lässt sich diese Stadt durchblättern, wie ein Lexikon der Liebeserklärungen, ein Kompendium autoritärer Kommandos. Man muss nur einmal in Begleitung eines kleinen Jungen, der gerade mit Begeisterung lesen lernt, durch die Stadt laufen, dann verwandelt sie sich ganz von selbst in ein uferloses Hieroglyphenmeer. Auf dem Heimweg von der Schule laufen wir von Baum zu Baum, wie andere Leute von einer Zeile zur nächsten gleiten. Vom Februarregen ausgeblichene Zettel, an Baumstämme getackert, an Laternenmasten geklebt, ziehen unsere Blicke auf sich. Der Briefkasten an der Kreuzung lockt auf der Rückseite mit einem „SpeckWeg-Angebot“, auf der Vorderseite mit „Herr, segne Israel“.

Ein Stück weiter passieren wir eine politisierte Platane: Ein rotes Quadrat fordert „Nein zur Studiengebühr!“, ein blaues Rechteck meint: „Antifa ist Angriff!“ Auf der Mülltonne am Ende der Straße scheint eine Frau – Konfektionsgröße 38, Schuhgröße 39 – radikal mit ihrer Existenz brechen zu wollen. Alles verschleudert sie: ihr blaues Schlafsofa, ihr Damen-Rennrad, ihre Motorad-Lederhose und eine Originalausgabe der Geschichten von Dr. Doolittle. Ich bekomme Lust, sie anzurufen und ihr zu raten, mit der esoterischen Straßenlaterne ein paar Meter weiter Kontakt aufzunehmen, die behauptet, ein unfehlbares Rezept für „Mehr Nähe zu sich selbst“ gefunden zu haben. „Fuck your mother on the beach!“, krakeelt ein Grafitto auf dem Telefonkasten hinterm Spielplatz. Ich versichere meinem Sohn, kein Englisch zu verstehen, und verbringe den Rest des Tages, mir über die Bedeutung dieser poetischen Aufforderung klar zu werden.

Überall begegnen uns Wörter. Schon dreimal habe ich diese Woche unter dem Scheibenwischer meines alten Golfs eine Visitenkarte gefunden, mit der Bitte, meinen Wagen zu verkaufen: „Jetzt oder später“. Trotz der Schrammen! Trotz des Drecks! Ich empfinde eine Art primitiven Stolz. Jeder Werbeträger ist geeignet für die große urbane Kommunikation: Mit dem Slogan „Bin ich wirklich der Vater?“ will die Klopapierrolle in der Damentoilette des Kino International einen Gentest verkaufen. Und jeden Freitagmorgen sprießen frische Zettelchen an den Bäumen meiner Straße: „Abbau. Entrümpelung. Entsorgung.“ Alles wird mitgenommen: „Elektrogeräte (auch defekte), Handys, Angelzeug.“ Eine Einladung, kurz vor dem Wochenende noch schnell sein Leben zu verändern?

Aber heute herrscht Panik in unserem gesitteten Mietshaus. An der Tür hängt ein Foto, auf dem ein beunruhigendes Pärchen dem Betrachter seine nackten Oberkörper präsentiert. „Wir sind ausgezogen, um hier einzuziehen“, informieren sie den Leser. Sie suchen eine Wohnung im Viertel. Wollen diese beiden etwa den Frieden unserer kleinen Gemeinschaft stören? Lauert unter dieser Steuerberater-Miene vielleicht ein Massenmörder? Und unter dem treuherzigen Landpomeranzen-Lächeln eine übel wollende Hexe? Was für Satansmessen, was für Sexorgien und kannibalische Festmähler werden sich hier abspielen, wenn diese zwei sich erst mal in der Etage unter uns breit gemacht haben? Nach einigem Nachdenken scheint es mir plötzlich, als ob die Lektüre des großen Buches der Berliner Straßen gefährliche Halluzinationen nach sich zieht. Vielleicht sollte mein Sohn doch lieber mit Dr. Doolittle lesen lernen. Ich werde sofort die verzweifelte Frau vom Mülleimer am Ende der Straße anrufen.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Foto: privat

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