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 Pascale Hugues schreibt für das französische Magazin "Le Point".

© Tsp

Mon BERLIN: Die Details von Oradour

Diese Woche erschien auf unseren Fernsehern ein Bild, das mir die Kehle zuschnürte: Zwei Präsidenten, einer Deutscher, einer Franzose, halten in ihren Armen einen würdigen und sehr alten Mann mit erstarrtem Gesicht. Joachim Gaucks Besuch in Oradour-sur-Glane ist eines der letzten Nachbeben der deutsch-französischen Aussöhnung.

Diese Woche erschien auf unseren Fernsehern ein Bild, das mir die Kehle zuschnürte: Zwei Präsidenten, einer Deutscher, einer Franzose, halten in ihren Armen einen würdigen und sehr alten Mann mit erstarrtem Gesicht. Joachim Gaucks Besuch in Oradour-sur-Glane ist eines der letzten Nachbeben der deutsch-französischen Aussöhnung. Zum ersten Mal hat ein hochrangiger deutscher Staatsvertreter sich in dieses Dorf begeben im Limousin, in dem am 10. Juni 1944 eine Division der Waffen-SS 642 unschuldige Zivilisten ermordet hat.

Für mich als Elsässerin symbolisiert Oradour das ganze Drama meiner Region mit seiner so komplexen Geschichte. Denn zu den Soldaten der Division „Das Reich“, die Oradour zerstörten, gehörten 14 Elsässer, ein Freiwilliger und 13 „Malgré-Nous“, „gegen unseren Willen“. Diese 130 000 jungen Zwangsrekrutierten kamen aus Elsass-Lothringen und wurden im August 1942 mit Gewalt in die Wehrmacht eingezogen. Vor einem Militärgericht in Bordeaux wurden die Elsässer 1953 in einem großen Prozess zu Gefängnisstrafen und Zwangsarbeit verurteilt. Nach massiven Protesten im Elsass verkündete die französische Nationalversammlung eine Amnestie. Daraufhin gab der Verband der Opfer von Oradour empört seine Légion d’Honneur zurück. Die Gemeinde Oradour lehnte es jahrelang ab, bei den Gedenkfeiern einen Vertreter des französischen Staats zu empfangen, ausgenommen General de Gaulle im Jahr 1962. Jacques Chirac war es, der sich um Versöhnung bemühte, als er 1999 das Centre de la mémoire einweihte. Erst am 8. Mai 2010 erkannte Nicolas Sarkozy in Colmar die Elsässer als „Opfer von Kriegsverbrechen“ an. Die Bilder dieser Woche prägen sich vor dem Hintergrund dieses Hasses ein, der Elsass und Limousin jahrzehntelang zerriss.

Wenn ich bei meinem Großcousin André, Malgré-Nous, in Colmar am Tisch sitze, erzählt er mir immer wieder, wie er der Reihe nach 1939 die französische, im August 1942 die deutsche und schließlich, bei Kriegsende die amerikanische Uniform anzog. Dann holt er das Album, in das er die Fotos seiner Vorfahren geklebt hat: Einer trägt die Uniform Napoleons, der andere die von Kaiser Wilhelm II. Und er lacht schallend: „Wer kann das toppen? Man brauchte sich nur auszuziehen und gleich wieder anzuziehen!“, sagt er in perfektem Deutsch. Einmal im Jahr treffen sich die Malgré-Nous von Colmar. Jedes Jahr berichtet André mir, wie viele noch am Leben sind. Ich glaube, dass er inzwischen der Einzige ist.

Mein Großvater hat im Ersten Weltkrieg in deutscher Uniform gekämpft, 1939 trug er dann ein paar Monate die französische. 1942 war er schon zu alt für die deutsche Uniform. Als Chirac der Handvoll noch lebender Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg en bloc die Légion d’Honneur verlieh, nahm er die Elsässer davon aus, trotz der Proteste aus der Region. Für wen gestorben? Für was gestorben? Für den Feind? Für den Boche? Den Fridolin? Den Fritz? Den Sprounz? So wurden die Deutschen im Elsass genannt, als ich ein Kind war. Die Sprache versöhnt sich nicht leicht. Auf allen Kriegerdenkmälern in Frankreich steht die Inschrift: „Gestorben für das Vaterland“ oder „Gestorben für Frankreich“. Im Elsass dagegen lesen Sie: „Für unsere Toten“.

Denn es ist undenkbar, dass die Republik die jungen Männer ehrt, die im Kampf für Deutschland ihr Leben verloren haben. In vielen elsässischen Familien hat man kein Recht auf diesen aus heutiger Sicht billigen und heute lächerlichen Trost. Man kann sich nicht sagen, dass der Sohn, der Mann für eine gute Sache auf dem Feld der Ehre gefallen ist.

Die Geschichte hat ihre Schattenzonen, ihre unerklärlichen Geschicke, und häufig sind sie nur schwer zu erzählen. „Wir gehen nicht ins Detail“, antwortete mir ein Geschichtslehrer im Gymnasium. Wir nahmen den Ersten Weltkrieg durch und ich hatte darauf hingewiesen, dass die Großväter seiner Schüler in unserer Straßburger Klasse in deutscher Uniform gekämpft hatten, und dass diese „elsässische Ausnahme“ doch eine Erwähnung wert wäre. Als ich die Bilder von Joachim Gaucks Besuch in Oradour sah, dachte ich wieder, dass es eben doch wichtig gewesen wäre, in die Einzelheiten zu gehen und an das so unendlich schmerzhafte Schicksal meines Großvaters und meines Cousins André zu erinnern.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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