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Mon BERLIN: Die Sehnsucht im Herzen, postlagernd

Ah, wie es im Bauch zog - wenn man sich besorgt, mit Herzklopfen und zaghaften Schritten dem Postschalter näherte, um zu fragen, ob nicht ein Brief angekommen war, „poste restante“, postlagernd. Ah, wie kostbar war dieser erste Brief von den Eltern nach sechs Wochen Trennung und Schweigen.

Ah, wie es im Bauch zog - wenn man sich besorgt, mit Herzklopfen und zaghaften Schritten dem Postschalter näherte, um zu fragen, ob nicht ein Brief angekommen war, „poste restante“, postlagernd. Ah, wie kostbar war dieser erste Brief von den Eltern nach sechs Wochen Trennung und Schweigen. Die so vertraute Schrift, die großzügigen Bögen der mütterlichen, die gedrängten Krakel der väterlichen Schrift, die Nachrichten vom Alltag zu Hause, die Berichte über Nichtigkeiten, die Küsse und die guten Wünsche unten auf der Seite. Vergessen die wütenden Versuche der Heranwachsenden, die Leinen zu durchschneiden. Vergessen der Mut der Alleinreisenden am anderen Ende der Welt. Erdrückt von der Hitze in dieser lauten brodelnden Riesenstadt im Herzen Afrikas, weit weg von der Familie, wurde man mitten in diesem Postamt von einem immensen Heimweh gepackt. Wie durch ein Wunder war dieser Brief hier gestrandet. Er kam von so fern. Und die Tränen flossen.

Ah, wie verrückt, wie verboten waren die Liebesworte, die der mürrische Postbeamte der untreuen Frau in der Post eines gottverlassenen Viertels am anderen Ende der Stadt aushändigte. Nur durch die „poste restante“ konnten die unrechtmäßig Liebenden ihr Herz sprechen lassen. Die einzige Brücke zwischen ihrem offiziellen und ihrem heimlichen Leben. Einzig dieses Spiel der Reflexe zwischen Licht und Schatten. Die Post, ehrwürdige staatliche Institution, beschützte die außerehelichen Liebschaften. Wie eine Puffmutter versprach sie höchste Diskretion. Sie war Zeugin so vieler entflammter Worte, erotischer Träume und ewiger Liebesversprechen … und einiger Rechtschreibfehler, die schnell verziehen wurden, so rührend wirkten sie angesichts der Leidenschaft. Und sie sah Kummer, Flehen, Verzweiflung. In Frankreich wird die „poste restante“ auch der „Kasten der Gehörnten“ genannt. Ende der 50er Jahre trällerte das ganze Land das Chanson von Guy Béart, Vater der Schauspielerin Emmanuelle Béart:

„Wir schrieben uns zarte Dinge, Worte, sündig und doch unschuldig,

Und rot wie unser Blut,

Ich wage sie nicht auszusprechen,

Wir schrieben uns „poste restante“, Zum Rendezvous der Neulinge,

Zum Rendezvous der Obdachlosen,

Denn das sind die Frischverliebten.“

Niemand, weder die aufsässigen Jugendlichen auf den Straßen Afrikas noch die verboten Liebenden, kennt noch dieses lange Warten, diese Hoffnung, die den Atem stocken lässt: Ist heute ein Brief für mich da? Oder die Verzweiflung: Er hat immer noch nicht geschrieben. Warum, großer Gott, warum ist mein Brief zurückgekommen, ungeöffnet, mit dem grausamen Vermerk: „Zurück an Absender“?

Heute sind Reisen und Liebesgeschichten schnelle Angelegenheiten. Eine hastig getippte SMS, ein Klick auf die winzige Tastatur des Handys, und in derselben Sekunde ist die verliebte Frau auch schon beruhigt. Einmal Skypen zwischen Timbuktu und Berlin, und die besorgten Eltern können das Gesicht ihres Sprösslings genau betrachten und darin eine alkoholisierte Nacht entdecken, sie können seine Schritte verfolgen, ihn bis in den letzten Winkel an einer virtuellen Leine laufen lassen.

Dank dieser extrem schnellen und effektiven Kommunikationstechnik ist der andere ständig erreichbar. Unmöglich, sich zu verstecken oder die Spuren auch nur für einen Augenblick zu verwischen. Man muss nicht mehr zittern, man könne vergessen worden sein, man wird nicht mehr von dem ewigen Warten, von dem unerträglichen Schweigen verschlungen. Ein Klick, und die Verbindung ist da. Keine Geheimnisse mehr, keine Flucht in eine andere Welt, eine Welt, in der nicht jeder Schritt überwacht, dokumentiert, genau verfolgt wird.

Die „poste restante“ erinnerte ein wenig an eine Flaschenpost. Man wusste nie genau, ob der Adressat sie auch wirklich erhalten würde. Aber wie viel berauschender war sie doch als diese Kaskaden steriler SMS oder die eisige Neutralität einer E-Mail. Diese Botschaften können die Sehnsucht niemals stillen.

Sie sind zu schnell, Schlag auf Schlag, zack, zack. Kaum ist eine Nachricht eingetroffen, da erwartet man ausgehungert schon die nächste, man ist gierig wie ein Junkie. Den „poste restante“-Brief steckte man in die Tasche, man las ihn hundert Mal, man genoss seine Gegenwart und ernährte sich von ihm, bis der nächste kam … in einen Postamt im Herzen Afrikas, in einem Viertel am anderen Ende der Stadt.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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