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Mon BERLIN: Die Vermessung der Welt im Sommer

Seit einer Woche reise ich durch die Kleinanzeigen, weit, sehr weit von Berlin weg. Ich streife durch Chalets, Landhäuser und Fewos. Die Alpen, die reine Luft, Frankreich … das wird uns gut tun.

Fewo. Diese Verkürzung war mir von Anfang an suspekt. Zu verniedlichend, zu harmlos, viel zu verschwommen. Schlimmstenfalls klingt sie nach Betrug, bestenfalls nach erstickender Gemütlichkeit. Nachts träume ich schon davon: Verstaubte Tüllgardinen schlingen sich um meinen Hals und erdrosseln mich, Armeen von Nippes stürzen sich auf mich. Zierdeckchen, Trockenblumensträuße, Häkelkissen auf Samtsofas nehmen mir die Luft zum Atmen. Über meinem Bett tanzt eine Degas’sche Tänzerin in ihrem vergoldeten Rahmen Spitzentanz – sie droht das Gleichgewicht zu verlieren und meinen Schädel zu durchbohren. Mir platzt der Kopf. Ich schrecke hoch. Ein Albtraum. Eine Fewo suchen, das bedeutet, dass man ganz tief in die Abgründe von Kitsch und Spießigkeit hinabsteigt. Die Fewo verspricht eine Menge: fantastische Aussicht, Luxusmöblierung, Marmorbadezimmer, absolute Ruhe, garantiertes Glück. Eine Ausstattung wie für einen Promi. Ein Leben wie ein Traum. All inclusive. Doch häufig folgt die brutale Ernüchterung. Ich erinnere mich an die Wohnung mit „Panoramablick“ auf einer griechischen Insel: Das Fenster ging auf eine Betonwand. Wenn man sich auf die Zehen stellte, konnte man ein Fragment vom Ägäischen Meer erspähen. Und erst das Gründerzeithotel am polnischen Ostseestrand nach dem Fall der Mauer. Die weit geöffneten Fenster gingen aufs Meer … und auf die Belüftungsanlage der Küchen. Nacht für Nacht mischte sich der Geruch nach altem Bratfett mit der Meeresbrise.

In den vergangenen Wochen habe ich mehrfach einen Rückzieher gemacht: Nein, wenn das so ist, dann bleiben wir eben zu Hause. Während ich mich mit der Machete durch den Dschungel von Blümchen und Spitzendeckchen kämpfe, wiegt sich der Lorbeer auf dem Balkon sanft im Sommerwind. Keine Wolke. Kein Geräusch. Der Liegestuhl öffnet seine hölzernen Arme. Auf dem Tisch wartet ein Buch. In der Ferne der Turm einer Backsteinkirche. Gelegentliches Glockenläuten. Wozu der Stress? Wozu verreisen, wenn das Paradies 15 Meter über der Straße liegt?

Im Sommer weht der Wind der Freiheit über allen Großstädten. Doch von den europäischen Hauptstädten sieht Berlin am meisten nach großen Ferien aus. All diese Seen in Brandenburg, die man doch unbedingt entdecken wollte, das Schlauchboot, das man noch nicht in das dunkle Wasser des Müggelsees gelassen hat, all die Museen, deren Besuch man sich das ganze Jahr über vornimmt. Aber die Sonntage gehen vorüber, und nie hat man Zeit.

Ich beneide diejenigen, deren Leben nicht an die Ferien gekettet ist. Sie können wegfahren, wenn alle anderen wieder zu Hause sind. Ende September ist das Mittelmeer so weich. Aber im August ist der Wannsee am schönsten.

Die Zeitungen warnen unablässig vor Staus. Vielleicht müssen wir die Nacht im Auto verbringen, eingezwängt zwischen Koffern und Wanderschuhen? Im Radio fragte diese Woche ein besorgter Vater den Dermatologen, der Hörerfragen beantworten sollte: „Womit soll ich meinen fünfjährigen Sohn als Erstes einschmieren, mit Sonnencreme, Mückenspray oder Zeckenlotion?“ Ich stelle mir das arme Kind vor: dick bestrichen wie ein Nutellabrot. „Und wenn er in die Sonne geht, bekommt er immer einen Hut mit einer breiten Krempe und vor allem ein T-Shirt!“, fügt der Vater eifrig hinzu. Um ihn ein wenig aus der Fassung zu bringen, würde ich ihm am liebsten zurufen: Haben Sie an die allergischen Reaktionen gedacht und an die Wespenstiche und an die Vipernbisse? Und die Zeckenzange haben Sie sicher auch vergessen, mein Herr!

In ein paar Wochen werden wir Urlauber heil und gesund nach Berlin zurückkehren. Wir werden die Autobahn, die Zecken und sogar die Fewo überlebt haben. Der Sommer wird vergangen sein. Wir werden keine Zeit mehr für die Museen haben. Und noch weniger für den Liegestuhl und das Buch. Der Lorbeer wird nicht mehr blühen. Aber auf einem Alpengipfel werden wir die Unendlichkeit der Welt gesehen haben. Ganz plötzlich wird der Balkon uns eng vorkommen, Berlin ein bisschen provinziell. Wir werden den Kopf so hoch tragen wie die großen Forschungsreisenden.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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