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Mon BERLIN: Ich möchte Ribéry einen kalten Umschlag auf die Stirn legen

Seit dem 6. Juni fühle ich mich wie ein Paria, verdammt in seiner eigenen Stadt.

Seit dem 6. Juni fühle ich mich wie ein Paria, verdammt in seiner eigenen Stadt. Ab 20.45 Uhr kann ich mich nicht mehr in der Öffentlichkeit aufhalten und muss mich in meiner Wohnung verbarrikadieren: Tyrann Fußball zwingt mir eine Ausgangssperre auf. Schluss mit den Sommerabenden, an denen man Cocktail schlürfend auf einer Caféterrasse sitzt, Schluss mit dem Bad im See, wenn die Nacht hereinbricht. Punkt 20.45 Uhr schließe ich die Fenster und lasse die Rollos herunter. Das Haus ist verlassen. Die Straße schweigt. Ich höre die Fliegen an der Zimmerdecke brummen. Hin und wieder vom kleinen Platz am Ende der Straße das Geheule und Getobe einer Horde tätowierter und in Fahnen gewickelter Raubtiere.

Am Donnerstagabend bin ich auf der Suche nach einer Zuflucht lange durch Berlin geirrt. Früh schlafen zu gehen hat ja auch keinen Sinn. Wenn die Türken und die Deutschen gewinnen, reißen Hupen, Kracher, Johlen anständige Menschen aus dem Schlaf. Kein entspannender Kräutertee in der Küche meiner Freundin B: die Hausgemeinschaft organisiert ein Public Viewing im Hinterhof. Die Kreuzkirche von Schmargendorf lädt zu Bockwurst, Kartoffelsalat und Beamer ein. „Man muss dem Volk aufs Maul schauen!“ Der Pfarrer zitiert Luther und vertritt damit ein großes Thema der Reformation. In der Gemeindegrube im Keller brüllt das Volk wie Löwen.

Der Fußball hat mein Leben verändert, und ich bin so frei, mich dagegen aufzulehnen. Seit dem 6. Juni fühle ich mit den Rauchern, den Aussätzigen, den Pestkranken, den Unwillkommenen und Ausgestoßenen aller Art. Wer sich nicht für Fußball interessiert, dem bleibt in diesen Tagen nur die innere Emigration.

Gestern früh im Auto höre ich Radio und denke dabei an alles Mögliche. Plötzlich eine begeisterte Frauenstimme. Martina kommt aus Bad Bergzabern und berichtet von ihrer Fußballleidenschaft. Ich gehöre zu einer Generation, in der Fußball nur etwas für die Kerle war. Wir Mädchen interessierten uns für Ballett und Reiten. Bestenfalls wurden wir am Platzrand als Cheer Girls toleriert, mit Pompoms, Minirock und verweintem Augenaufschlag. Wer einen Fuß- von einem Rugbyball unterscheiden konnte, galt schon fast als Mannweib. Die Liebe zum Fußball ist die Frauenbewegung in höchster Vollendung … wer nicht für den runden Ball bibbert, ist eine Mimose, ein Weibchen, ein Nichts. Die Tahitianerinnen aus Berlin tragen schwarz-rot-goldene Girlanden um den Hals und haben rosa lackierte Zehennägel. Und wenn eine Frau einen Kommentar abgibt, verdreht kein einziger Mann mehr verzweifelt die Augen. Nicht in der Küche und nicht in den Büros leben Männer und Frauen die Gleichberechtigung, sondern beim Public Viewing.

Nein, Fußball lässt mich keineswegs gleichgültig. Im Gegenteil. Aber er weckt in mir nur jene Instinkte, die traditionell dem schwachen Geschlecht zugeschrieben werden. Mitgefühl: Als Franck Ribéry sich auf der Trage vor Schmerzen krümmt, möchte ich am liebsten als rasende Florence Nightingale zu ihm eilen und ihm einen kalten Umschlag auf die Stirn legen. Überempfindlichkeit: Ja, ich gestehe, dass sich mir bei der Niederlage der Bleus der Hals zuschnürt und die Augen feucht werden. Hysterie: Als der ZDF-Sprecher sein ironisches Sätzchen von sich gibt: „So muss man es schon sagen – bei den Franzosen ist Bonjour Tristesse!“ Ah, nur zu gern würde ich ihm vors Schienbein treten. Fußball liebe ich nicht. Aber ich liebe Frankreich! Schmachtende Verehrung: Mit seinem grau melierten Bart, seinem weißen Hemd, seiner Krawatte sieht Roberto Donadoni wie ein Model von Armani aus. Und auch Figos Oberkörper erweckt noch immer bisweilen zärtliche Gedanken in mir. Diese muskulösen Waden und Schenkel verdrehen mir den Kopf. Sie sehen also: nichts als die Gefühle einer Midinette. Das ist der Grund, warum ich, Verräterin an der Sache der Suffragetten, nach 20.45 Uhr nicht mehr aus dem Haus gehe.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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