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Mon Berlin: Leckere Tiere, gemischte Gefühle

Thunfisch und Gänseleber in Aspik: Warum man in Deutschland beim Essen so oft Schuldgefühle bekommt.

"Eigentlich sollte man keinen Thunfisch mehr essen!“

Ich suche keinen Streit. In aller Unschuld habe ich einfach nur ein Tekka Don bestellt, Thunfisch auf warmem Reis, und meine Zeitung aufgeschlagen. Es ist ein Uhr mittags. Ich sitze an dem großen Tisch in meiner Lieblings- Sushi-Bar, einem der Plätze, von dem aus ich die Berliner Sitten beobachte.

Die Frau, die dieses Verbot mit einer vor lauter Tugend ganz erstarrten Stimme ausgestoßen hat, wendet sich allerdings nicht direkt an mich. Sie spricht mit ihrer Freundin, die ihr gegenüber sitzt. Dass der Vorwurf mir gilt, steht jedoch außer Zweifel.

Ich kenne die Strategie der wirklich Furchtlosen sehr gut: Man schickt seine Botschaften auf Umwegen los und tut so, als wenn nichts wäre, und zugleich vergewissert man sich, dass sie das Ohr der Schuldigen auch wirklich getroffen haben.

Ich stecke meine Nase wieder in die Zeitung und warte auf mein Tekka Don. Meine Nachbarin stürzt sich in einen endlosen Tunnel, einen eintönigen Monolog über die Gefahren der Thunfischjagd in Japan, die Ausrottung der Spezies, die Gewissenlosigkeit von Personen, die sich immer noch erdreisten, Thunfisch zum Mittagessen zu bestellen, als wäre es das Normalste der Welt.

Der Teint der Moralpredigerin ist grau, ihre Augen sind trübsinnig, ihre Laune passt gar nicht zu diesem zwar verfrühten, aber sonnigen Berliner Herbst. Sie erinnert mich an das oberlehrerhafte und ziemlich triste Deutschland der siebziger Jahre. Mein Essen wird gebracht. Ich spiele den Agent provocateur und lasse mir das zarte rote Fleisch genießerisch auf der Zunge zergehen. Ich lecke mir die Lippen. Ich stöhne vor Vergnügen. Nein, meine Nachbarin wird mir den Appetit nicht verderben! Ich räche mich, und das tut mir gut.

Als ich aufstehe und gehe, höre ich, wie sie sich in das nächste Opfer verbeißt: „Lachs! Und das heute! Genauso gut könnte man ein Röhrchen Antibiotika schlucken, das kommt aufs Selbe raus!“ Ich ergreife die Flucht.

Um vier Uhr nachmittags trinke ich mit Ella Danz auf dem Balkon Tee. Ella Danz schreibt Kriminalromane. Sie ist meine Nachbarin. Sie recherchiert für ihren nächsten Roman. Sie schreibt über einen Koch und braucht die Rezepte einiger elsässischer Gerichte. Stolz schwenke ich die kulinarische Fahne meiner Heimat: Sauerkraut – Baeckehoffe – Gänseleber. „Unbedingt Gänseleber!“, sage ich begeistert. „Die Gänseleber ist die Seele des Elsass!“ Mir läuft dabei das Wasser im Mund zusammen.

Ahnungslos habe ich mich auf ein Minenfeld gewagt. „Ah!“ Ella Danz stößt einen so spitzen Schrei aus, als hätte ich ihr einen Becher Zyankali serviert. Sie erbleicht. Ich glaube, dass ihr gleich schlecht wird und sie inmitten der Oleandertöpfe auf dem Balkon ihren Geist aufgibt. Fast eine Szene wie im Krimi. Doch sie kommt wieder zu sich. „Nein, nein, mir macht Gänseleber nichts aus. Ich bin da nicht dogmatisch. Aber ganz sicher bekomme ich Probleme. Also lieber nicht.“ Ich weiß nicht, ob Agatha Christie sich derartig um das seelische Befinden ihrer Landsleute gesorgt hätte. Wir sprechen über das so sensible Deutschland. Und wir entscheiden uns für das Zwiebelkuchenrezept.

Ella Danz geht mit meinem Backbuch unter dem Arm. Als sie verschwunden ist, wird mir klar, dass meine Fähigkeit zur Verdrängung riesig sein muss. Zu selten denke ich nach, wie die Gänse gestopft werden. Und wenn ich vielleicht Schmähbriefe bekomme, habe ich Pech gehabt. Ich weiß nur, dass Gänseleber göttlich ist – mit einem Gewürztraminer oder einem Hauch dunkler Schokolade, wie man sie heute serviert, wenn man modern sein will.

An jenem Abend überfällt mich das Schuldgefühl. Während ich eine Scheibe Vollkornbrot mit einem Früchtetee hinunterspüle, ziehen vor meinem inneren Auge alle meine früheren Sünden vorbei: Gänseleber in Aspik, Hummer, der lebend ins kochende Wasser geworfen wird, mit Kräutern der Provence gegrillter Thunfisch, die Drosselpastete meiner Großtante Mireille, rosinengefüllte Tauben, Froschschenkel, dutzendweise Schnecken mit Knoblauch, Austernplatten … all diese verbotenen Gerichte, die verwünschten Freuden, die mir die Ausweisung aus Deutschland einbringen können.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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