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Mon BERLIN: Nicht jedes Jahr ist Weihnachten

Nach dem Geschenk des Extrasommers sind die Augen noch ganz von Sonne getränkt. Kaum ist Berlin brutal in den Herbst getaucht, wirft schon die alljährliche Albtraumfrage ihren Schatten über die Familien.

Nach dem Geschenk des Extrasommers sind die Augen noch ganz von Sonne getränkt. Kaum ist Berlin brutal in den Herbst getaucht, wirft schon die alljährliche Albtraumfrage ihren Schatten über die Familien. Wenn Sie es noch nicht getan haben, dann wird es jetzt höchste Zeit, darüber nachzudenken: Wie feiern wir dieses Jahr Weihnachten? Ich sehe bereits Ihre flehenden Blicke, Sie betteln um Gnade: Bitte, bitte, noch ein paar Tage Verschnaufpause, bevor dieses heikle Thema aufs Tapet gebracht wird! Aber nein, der Schicksalstag rückt näher. Die harten Verhandlungen dürfen nicht weiter hinausgeschoben werden.

In den Familien werden die Argumente geschärft, die Munition zurechtgelegt. Strategien werden entworfen, Verschwörungen angezettelt, Seilschaften gebildet. Die Organisation des Weihnachtsfestes: Diplomatie auf höchstem Niveau, gewagte psychologische Manöver, riskante Reise in trübe Gewässer, in die unablässig lauernde Gefahr.

Man muss die Empfindlichkeiten der einen wie der anderen umschiffen, den Eisbergen ausweichen, die so harmlos aus dem Wasser ragen und deren zerstörerische Gewalt in der schwarzen Tiefe nicht zu erkennen ist. Tausend Probleme warten darauf, gelöst zu werden, ohne dass die zerbrechliche Architektur des Familiengebäudes aus dem Gleichgewicht gerät.

Erste Etappe: die Entscheidung für das Datum. Nein nein, Sie haben richtig gelesen. Nicht für jeden ist der 24. Dezember selbstverständlich. In unserer Zeit der Flexibilität wählt man Weihnachten à la carte. Schlagen Sie den Kalender auf und entscheiden Sie, wie es Ihnen passt. „Dieses Jahr feiern wir am 17. Das ist nicht so verstopft“, hat die Schwester einer Schweizer Freundin ihrer Familie per E-Mail verordnet. Heiliger Abend am 17. Dezember, warum eigentlich nicht? Das ist doch viel praktischer! Die Kirchen sind leer, die Geschäfte noch nicht überfüllt, jeder hat an dem Abend Langeweile. Im Kalender ist noch Platz. Der Tag darauf ist ein Sonntag. Man kann sich also nach Herzenslust betrinken und am nächsten Morgen bis in die Puppen schlafen. Jesus, eine Sturzgeburt im Stroh, ein paar Tage vor dem errechneten Termin. Eine Entbindung, wie sie in den Berliner Kreißsälen jeden Tag vorkommt. Christkind hin oder her. Es genügt, Marias Wehen umzuprogrammieren, ebenso den Stern, die Hirten, die Heiligen Drei Könige, und die Sache ist geritzt. Was soll’s! Weihnachten ist ein ebenso verhandelbarer Termin wie die anderen.

Die zweite harte Nuss, die im Herbst geknackt werden muss: Wie verfahren wir mit den lahmen Enten? Muss Tante Doris wieder eingeladen werden, die voriges Jahr schon nach dem Aperitif sternhagelvoll war, ausrutschte und der Länge nach auf den sorgfältig gedeckten Tisch fiel? Eine im Sturz mitgerissene Kerze setzte das Tischtuch in Brand.

Muss man auch dieses Mal wieder die Tiraden des ewig rebellischen Cousins ertragen, der nach dem Hauptgericht wie immer gegen die Konsumorgie und den Egoismus vom Leder ziehen wird? Und die beiden verfeindeten Schwägerinnen, die seit Jahren nicht miteinander sprechen? Bei der Tischordnung ist es von entscheidender Bedeutung, dass sie außerhalb des Gesichtsfelds der jeweils anderen sitzen.

Nicht einmal beim Fest der christlichen Liebe dürfen sich ihre Blicke begegnen. Für jeden ist der passende Platz zu finden. Die alten Rivalitäten müssen neutralisiert werden, die am Grund der Seelen gären und nur darauf warten, nach dem ersten Glas Weißwein zu explodieren. Die Planung für Weihnachten ist ein großes menschliches Puzzle, außer dass manche Teile nie hineinpassen.

Ich habe nicht viel Fantasie. Gebe ich zu. Und deshalb plädiere ich für Weihnachten am 24. Dezember, ganz klassisch, durch und durch konventionell und spießig. Wenn die Schwägerinnen sich in der Luft zerreißen, wenn Tante Doris das Tischtuch abfackelt – Pech gehabt, das gehört eben dazu.

Das Spektakel wird alle erheitern. Der Abend bleibt unvergesslich. Und für den Fall, dass dicke Luft herrscht, hier der Tipp einer englischen Freundin: In der Küchenschublade versteckt ist eine Flasche Brandy, von dem man sich zur Entspannung ab und zu einen Schluck gönnt …

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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