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Meinung: MON BERLIN Nicht vor neun!

Mein Wecker ist verschwunden, meine Uhr funktioniert nicht mehr. Seit einer Woche lebe ich in einem Nirgendwannsland ohne Zeitzonen, in einer grenzenlosen Stille, die kein Rhythmus klickender Stunden, kein Ticken von Sekunden unterbricht.

Mein Wecker ist verschwunden, meine Uhr funktioniert nicht mehr. Seit einer Woche lebe ich in einem Nirgendwannsland ohne Zeitzonen, in einer grenzenlosen Stille, die kein Rhythmus klickender Stunden, kein Ticken von Sekunden unterbricht. Ich bin gezwungen, das Verstreichen der Stunden von Hand abzuwägen, den Kreislauf der Tage zu erahnen. Um meine innere Uhr zu schulen, lausche ich dem Lärm auf der Straße.

Acht Uhr: Die Schule fängt an. Turnschuhsohlen streicheln das Pflaster, gruppiert in kleinen, kompakten Einheiten. Der Lärm aufgeregter Gespräche erfüllt die Luft. Die Kleinen beeilen sich, den Rücken unter schweren Schultaschen gebeugt. Es ist noch nicht mal ganz hell. Unmenschlich, den Tag so früh anfangen zu müssen, wenn man erst sieben ist!

Neun Uhr: Die Espressokanne zischt auf dem Gasherd. Nebenan springt eine Bohrmaschine an. Überall beginnen Telefone zu klingeln. Rastlosigkeit in den Büros. Mein erster Kulturschock in Deutschland waren die frühen Verabredungen: Im Westen geht es noch, aber im Osten hat man es tatsächlich gewagt, mir Termine um sieben Uhr dreißig anzubieten. Ich erinnere mich, wie ich um sechs Uhr morgens eine knatternde Traktorenparade in einer LPG in Brandenburg besichtigen musste. Brutal aus dem Schlaf gerissen, glaubte ich, die sowjetischen Panzer seien gekommen, um die Wiedervereinigung rückgängig zu machen. Inzwischen erwidere ich bei solchen Terminen ganz unverschämt: Ich bin Französin! Nicht vor neun Uhr!

Die Mittagsstunde ist mein persönliches Drama. Um viertel vor zwölf ist Frau Zaber, die ich absolut dringend ans Telefon bekommen muss, gerade „nicht am Platz“. Sprich: Frau Zaber mampft in irgendeiner Ecke des Büros ihre Salamistulle. Zu dem Zeitpunkt, als sie sich endlich mit der Serviette die Mundwinkel abwischt, ist es eins und meine Pariser Redaktion ist geschlossen essen gegangen. Das Verlagsgebäude ähnelt dem Wrack der Titanic nach dem Untergang. Die einzige an Bord gebliebene Telefonistin beantwortet meine Fragen schlecht gelaunt, den Mund voll mit Hühnersalat aus der Snackbar vom Ende der Straße. Alle anderen sitzen im „Chez Madeleine“. Leberpastete, Boeuf Bourgignon, Salat und Käse. Dieses heilige Ritual rührt mich so sehr, wie es mich zur Verzweiflung bringt. Ich bin neidisch. Nicht mal am 12. September 2001, als der Schutt des World Trade Centers noch rauchte, haben die französischen Journalisten Mittag ausfallen lassen!

Als die Redaktion endlich zurückkehrt, mit schweren Bäuchen, weil der dreifache Espresso die Narkosewirkung des Viertelliters Rotwein nicht aufheben konnte, ist Frau Zaber schon weg: Feierabend! Ich beiße verzweifelt in meinen Bleistift. Mein Arbeitstag hat noch nicht mal angefangen. Und außerdem habe ich jetzt auch noch einen Bärenhunger: Gezwungen, zwischen den Stullen von Frau Zaber und dem Boeuf Bourgignon meiner Pariser Kollegen die Stellung zu halten, bin ich nicht zum Essen gekommen.

17 Uhr: Mein inneres Zeitgefühl erleidet einen schweren Schock. In dem Café, in dem ich Tee trinken wollte, bietet man mir ein Frühstück an. Für die Szene-Berliner dehnt sich der Morgen ins Unendliche. Der Briefträger, der die Post seelenruhig um zwei Uhr nachmittags ausliefert, ist ein weiteres Störelement in meiner inneren Chronologie.

18 Uhr 30: Die Restaurants sind brechend voll. Doch als ich um 23 Uhr aus dem Kino komme, könnte man glauben, dass eine Bombe die Gäste in alle Winde zerstreut hat. Die Deutschen essen früh, die Franzosen spät. Und als ich um Mitternacht zurück nach Hause komme, ist meine Babysitterin gerade dabei, sich vor dem Badezimmerspiegel in eine Prinzessin zu verwandeln. Ihre Nacht beginnt. Mein Tag ist zu Ende.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Foto: privat

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