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Meinung: MON BERLIN Schmachten doch lieber beim Frisör

Seit Berlin Hauptstadt geworden ist, sind seine Bewohner von dem Wunsch besessen, genau wie Paris und New York einen Jetset im Pailletten-Outfit anschmachten zu dürfen, eine verzogene High Society mit glamourösem Liebesleben. Dank der Berlinale wird diese Phantasie wenigstens an fünfzehn Tagen im Jahr real.

Seit Berlin Hauptstadt geworden ist, sind seine Bewohner von dem Wunsch besessen, genau wie Paris und New York einen Jetset im Pailletten-Outfit anschmachten zu dürfen, eine verzogene High Society mit glamourösem Liebesleben. Dank der Berlinale wird diese Phantasie wenigstens an fünfzehn Tagen im Jahr real. Der Sunset Boulevard scheint dann direkt in die Marlene-Dietrich-Straße zu münden und für eine Weile lässt Berlin all seine Möchtegern-Helden und Provinz-Diven im Schrank verschwinden. Udo Walz und seine falschen Hohenzollern-Prinzessinnen dürfen abtreten: Der dürftige Ersatz der kargen Monate verblasst vor den Originalen, und die Berliner verneigen sich ehrfürchtig vor Jack Nicholson und Claudia Cardinale.

Einem ergebenen Fußvolk fällt die Aufgabe zu, diese zerbrechliche Illusion aufrechtzuerhalten. Und uns Journalisten der Versuch, nicht am Mythos der Stars zu kratzen. Eine nicht ganz leichte Mission, wenn man nach zwei Stunden aufrecht stehenden Wartens in einem zugigen Hotelflur endlich zwischen einem wortkargen Filmstar und einem ungeduldig auf die Uhr schielenden PR-Manager sitzt. Versuchen Sie mal, die flüchtige Magie einer solchen Begegnung einzufangen! Ein Kollege aus England musste, um die puritanische Neugier seines Boulevardblatts zu befriedigen, eine schlaflose Nacht lang vor der Luxus-Suite von Kevin Spacey Schmiere stehen. Seine delikate Mission: den Beweis zu erbringen, dass der libido-getriebene Familienvater aus „American Beauty“ in Wirklichkeit schwul ist und in seinen Gemächern Knaben empfängt.

Dann gibt es die undankbaren Aufgaben der Hostessen, die die Stars während der Berlinale begleiten: Mäntel tragen und Handtaschen halten, wenn die Diva mal kurz auf dem Klo verschwindet. Aspirin verabreichen. Anbrandenden Groupie-Wellen den eigenen Körper entgegenstemmen. Im „90 Grad“ bis in die frühen Morgenstunden deprimierten Alkoholikern zuhören. Diese Mädchen allein hätten die Macht, den großen Mythos zu demontieren und die unnahbarste Diva in ein kleines Häuflein Mensch zu verwandeln. Sie allein kennen die Kehrseite der Kulissen. Sie haben die Tränensäcke unter den Augen der Promis gesehen, sie wissen alles über schlechten Atem und schlechte Laune. Dustin Hoffman in Lebensgröße? Ein Zwerg, eingelaufen im grauen Sprühregen des Februars. Die berühmten Hüften der Catherine Deneuve? Nicht mal la Deneuves Figur entgeht den Wechseljahren.

Nicht zu vergessen all die Heiligen der Berlinale! Die Bataillone von Putzfrauen, denen die jungfräuliche Sauberkeit des roten Teppichs eine Frage der persönlichen Ehre ist. Die Sternchen am unteren Ende der Karriereleiter, die kaltblütig Lungenentzündungen einkalkulieren, wenn sie bei winterlichen Temparaturen den Paparazzi ihre entblößten Rundungen feilbieten (wie leicht haben es dagegen die Bikini-Mädchen auf der Croisette von Cannes im Mai). Die Platzanweiser im Berlinale-Palast, die mit eisernem Griff Horden von Journalisten davon abhalten, sich beim Kampf um die besten Plätze der Matinee-Vorstellung gegenseitig zu massakrieren. Die Kellnerinnen in der Nachtbar des Hyatt-Hotels, die den Alkoholikern den Weg in Richtung Bett weisen.

Es kann ganz schön ermüdend sein, Träume zu fabrizieren. Wenn wir Berliner endlich wieder unter uns sind, wenn die ganzen Nicholsons und Cardinales abgereist sind und Udo Walz mit seinen Hohenzollern-Hochstaplerinnen wieder die Hauptstadt regiert, dann werde ich ganz in Ruhe die „Gala“ studieren, mit einem feuchten Handtuch um den Kopf, wohlig entspannt in der beruhigenden Atmosphäre meines kleinen Kiez-Frisörs. Das ist weniger riskant als die Berlinale. Und der Traum vom Promi-Glück ist garantiert.

Die Autorin schreibt für das französische Magazin „Le Point“. Foto: privat

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