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Mon BERLIN: Umhüllt vom Wald, bebend wie eine frisch Verliebte

Was ist mit mir los nach diesem langen Sommer? Mein Herz zuckt nicht mehr zusammen, wenn ich den Fehrbelliner Platz überquere.

Was ist mit mir los nach diesem langen Sommer? Mein Herz zuckt nicht mehr zusammen, wenn ich den Fehrbelliner Platz überquere. Prenzlauer Berg lässt mich kalt wie eine Granitplatte. Nicht einmal die prächtige Unter den Linden schafft es noch, mich wegzufegen. Ist meine Liebe für Berlin etwas erschlafft nach all den Jahren?

In den letzten Wochen habe ich sehnsuchtsvoll nach anderen begehrenswerten Städten geschielt. San Francisco, Jerusalem, Paris, Hamburg ... Mein Berlin ist plötzlich blass, ja, fast langweilig. Eine Hauptstadt wie ein Paar alte abgetretene Pantoffeln, die man nur noch widerwillig anzieht. Bequem, das ja, sie schmiegen sich dem Fuß schön an, aber so gar nicht sexy!

Wie das Feuer wieder entzünden? frage ich mich jeden Morgen leicht beunruhigt. Glücklicherweise versteckt Berlin mitten im tiefsten Wald, am grünen Hang der Murellenberge, ein radikales Mittel gegen das Erkalten der Liebe: die Waldbühne!

Verona hat seine Arena. Avignon den Ehrenhof im Papstpalast. Epidaurus sein Theater. Sussex den limettengrünen Rasen von Glyndebourne und London die Royal Albert Hall mit der Last Night of the Proms … Und Berlin? Berlin hat seine Waldbühne. Wenn es nicht in Strömen gießt. Wenn die Berliner Philharmoniker kleine schwarz-weiße Punkte vor der steil ansteigenden Schlucht des Amphitheaters sind. Wenn die Feuerzeuge leuchten und die Bäume sich als dunkle Silhouetten gegen den Sommerhimmel abheben. Dann kann man dieser Magie auf keinen Fall widerstehen.

Die Waldbühne – und das ist ihr so ganz besonderer Charme – hat weder die verkrampfte Eleganz von Glyndebourne noch die linksbürgerliche Lässigkeit des Papstpalastes. Die Waldbühne ist wie Berlin: unprätentiös, unkompliziert, lässig, wenn nicht sogar einen Tick ordinär, frech, locker.

Die Völkerwanderung purzelt aus der S-Bahn, ausgestattet wie eine Expedition in den Urwald eines fernen Kontinents: Rucksack für das Picknick, Decken, aufblasbare Kissen, Regenschirme, Müllsäcke, Mückenspray. Der Berliner trägt eine Regenkapuze statt eines Blumenhutes, Wanderschuhe statt Seidenpumps. Keine Champagnerflöte und Lachssandwich wie in Glyndebourne, sondern Bouletten, Frikadellen, Currywurst, Pommes frites, Himbeerbowle und Berliner Kindl in einem Plastikbecher. Das komplette Berliner Gourmetmenü!

Aber vor allem: die Luft der Freiheit. Welche quasi orgiastische Toleranz im Vergleich zu dem strikten Benimmkodex, der an den Konzertabenden im Tempel am Potsdamer Platz herrscht. Alles, was unter dem Dach der Philharmonie eine sofortige gnadenlose Lynchjustiz auslösen würde, ist unter freiem Himmel plötzlich erlaubt. Zu den ersten Akkorden von Schostakowitsch eine Zigarette anzünden? Aber bitte sehr! Nino Rota mitsummen? Nur zu! Eine Boulette verschlingen, während das Andante come prima von Respighi erklingt? Lasst es euch schmecken! Der Nachbarin eine Frage stellen, ein „seene Frau is ooch da?“, gähnen, sich räuspern oder, noch schlimmer, sich einem befreienden Hustenanfall hingeben ... Schwamm drüber! Auf den Bänken umschlingen sich die Paare, die Füße klopfen den Takt mit. Eine ganze Reihe schunkelt einen Walzer mit. In der Waldbühne darf man wild und frei sein.

Die Waldbühne ist Berlin von seiner schönsten Seite, sagte ich mir vorige Woche. Hier herrscht eine Leichtigkeit, ein Witz, eine Herzlichkeit ... und vor allem diese einmalige kollektive Zugehörigkeit, wenn der Dirigent sich umdreht und dem Publikum die Einsätze gibt. Einige Sekunden hängt der Stab im Leeren. 20 000 Menschen halten die Luft an. Ein letztes Flugzeug dröhnt durch den tintenblauen Himmel. „Jetzt aber!“ fleht die Menge. Jetzt geht’s los!

Der Höhepunkt! Die Berliner Luft pfeift durch die Nacht. Die Berliner Nationalhymne, leicht, anspruchslos. Welch Kontrast zum „Land of Hope and Glory“ in der Royal Albert Hall. Ich gebe zu (und schäme mich deshalb ein wenig), dass Elgar es immer schafft, meine Tränendrüsen zu aktivieren. Ganz anders die Berliner Luft. Sie ruft eine friedliche Fröhlichkeit hervor, die niemanden bedroht. Umso bewegender, wenn man sich an die Geschichte dieses 1936 im Rahmen der Olympischen Spiele errichteten Ortes erinnert. Deutschland ist so ungefährlich geworden. Alle springen auf. Pfeifen mit. Die Nacht ist warm. Der Wald umhüllt uns. Und ich bebend wie eine frisch Verliebte. Mit Berlin ist alles wieder wie am ersten Tag.

Aus dem Französischen

übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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