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Mon BERLIN: Vom Leben in den Bahnhofshallen

Wenn man aus Rom, London oder Paris kommt, um in Berlin zu leben, dann ist das ein bisschen, als würde man Gulliver bei seiner seltsamen Reise begleiten: von Liliput ins Land der Brobdingnag. In London betrachte ich häufig die Schädel der Engländerinnen, die winzig durch die Gänge der Underground um mich herumflattern.

Wenn man aus Rom, London oder Paris kommt, um in Berlin zu leben, dann ist das ein bisschen, als würde man Gulliver bei seiner seltsamen Reise begleiten: von Liliput ins Land der Brobdingnag. In London betrachte ich häufig die Schädel der Engländerinnen, die winzig durch die Gänge der Underground um mich herumflattern. In Paris ist mein Präsident ein Kopf kleiner als ich, und wenn er die Einlagen aus den Schuhen herausnimmt, die ihn ein paar Zentimeter größer erscheinen lassen, muss ich den Rücken krumm machen und die Beine leicht anwinkeln, um auf seine Höhe zu kommen.

Aber kaum steigen Italiener oder Franzosen am Berliner Hauptbahnhof aus, sind sie von Riesen umgeben. Sie sehen nur noch Hunderte von unendlich langen Beinen, dazu Arme ohne Kopf, die überall gestikulieren. Und um die Gesichter zu entdecken, die zu all diesen Körperteilen gehören, müssen sie sich fast auf die Zehenspitzen stellen und die Augen zum Himmel heben.

Kleine Menschen, kleine Wohnungen. Die Londoner Reihenhäuser, an schmalen Bürgersteigen aufgereiht wie Perlen an einer Schnur, lassen an Puppenhäuser denken. Niedrige Decken, Zimmer von der Größe eines Schmuckkästchens, dicker Teppichboden, unglaubliche Mengen von Möbeln und Nippes, die sich auf sehr kleinen Flächen drängen. In London lebt man beengt und zu astronomischen Preisen.

In Paris braucht man viel Fantasie, um aus dem Platz möglichst viel herauszuholen. Mein Freund Philippe, glücklicherweise kein Klaustrophobiker, hat sich in der Mini-Besenkammer seiner Wohnung ein Büro eingerichtet (eigentlich ist es eher eine Hundehütte), ein Ort nur für ihn allein, am Ende des Flurs, zwischen Bad und Toilette, ein wenig auf Abstand zu seiner turbulenten Familie. Vom Rest der Welt trennt ihn ein Vorhang. Innen: ein Stuhl, eine Arbeitsplatte mit einem Laptop, mit Büchern vollgestopfte Regale, ein Transistorradio und die Illusion des Alleinseins. Draußen schreien die Kinder, die in dem schmalen Korridor Murmeln spielen, draußen spielt sich das tägliche Leben ab. Als Philippe sein Refugium errichtet hatte, musste er den Bauch einziehen, die Luft anhalten und sich von der Seite in sein Behelfsbüro zwängen. Zwei Jahre später ist er ein bisschen älter und viel dicker geworden. Vorige Woche mussten seine Frau, die Töchter und ich ihn an den Füßen und am Pullover herausziehen. Er war eingeklemmt. Eine wahre Entbindung. Nach 20 Minuten hatten wir den knallroten und halb erstickten Philippe endlich aus seiner schützenden Gebärmutter gezerrt.

Und das ist genau der Grund, warum Londoner und Pariser bei ihrer Ankunft in Berlin sprachlos die Augen aufreißen, wenn sie sehen, wie groß unsere Wohnungen sind. Meter um Meter unberührter Flächen. Und wann immer die Besucher die Tür zum Berliner Zimmer öffnen, stoßen sie erstaunte Schreie aus. Dieses unermesslich große Zimmer, das in den alten Berliner Wohnungen die repräsentativen Bereiche des Vorderhauses von einer Reihe bescheidenerer Räume im Seitenflügel trennt. Im Vergleich zu Philippes Besenkammer wirkt unser Berliner Zimmer wie eine Bahnhofshalle.

Dabei geht das Berliner Zimmer einem auf die Nerven, man weiß nicht so recht, was man damit anfangen soll. Es ist übermenschlich groß, und selbst die deutschen Riesen fühlen sich hier verloren. Zu gigantisch, um gemütlich zu sein. Zu klein und vor allem zu dunkel, um zwei daraus zu machen. Es geht auf den Hinterhof. Es ist immer etwas düster mit seinem einzigen Eckfenster, es ist in Schatten getaucht und liegt sperrig und ohne natürliche Funktion mitten in der Wohnung. Es ist kein wirklich abgeschlossener Raum, aber auch kein Schlafsaal, obwohl es ein Mädchenpensionat aufnehmen könnte. Nein, nur ein damals strategisch gelegener Übergang zwischen zwei Welten: die Herrschaft in der vorderen Wohnung, die Dienstboten hinten. Manchmal sage ich mir, dass das Berliner Zimmer nur dazu dient, uns an jene untergegangene Zeit zu erinnern, als die Berliner der gehobenen Stadtviertel in dem riesigen Zimmer 24 Gäste zu Tisch baten. Das Berliner Zimmer zeugt von diesem triumphierenden und seines sozialen Rangs gewissen Bürgertum der Gründerzeit, als noch alles möglich war. Die Dienstmädchen wohnten abseits, neben der Küche. Die armen Mädchen aus Brandenburg oder dem Spreewald mussten sich klein machen, um sich auf ihrem Strohsack niederlassen zu können. Ihr Zimmer, ein Miniaturverschlag, war noch enger als Philippes Besenkammer.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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