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Mon Berlin: Wer weiß noch, wie man einen Teig knetet?

Frankreich ist das Land, das das Essen liebt und etwas davon versteht - dachte Pascale Hugues. Bis sie in den Ferien mal wieder in einem französischen Supermarkt einkaufte.

Wenn man im Ausland wohnt, trägt man einen Traum von der verlorenen Heimat mit sich herum, ein ziemlich schiefes Gebilde aus Kindheitserinnerungen und nostalgisch-idealistischen Vorstellungen, Geschöpfen der Phantasie. Denn mit dem Vergehen der Zeit schwindet auch der Kontakt zum Herkunftsland. Nach all den Jahren in Berlin war ich daher zu der unerschütterlichen Überzeugung gelangt, Frankreich sei das Land, das das Essen liebt und etwas davon versteht – für mich eine Selbstverständlichkeit so alt wie die Zivilisation.

Bekanntlich ist der Glaube ebenso wenig haltbar wie Seifenblasen. Ich brauchte nur in dem Alpennest einzukaufen, wo ich meine Ferien verbringe – und plopp! schon ließ die Berührung mit der Realität meinen Traum platzen. Hier gibt es keine Lebensmittelgeschäfte mehr. Ein paar luxuriöse Feinkostläden, die noch Käsesorten von savoyischen Bauern verkaufen. Einige Bäckereien für das Frühstücksbrot. Das ist alles. Wenn man Melonen, Eier oder einfach Milch braucht, gibt es nur eine Möglichkeit: Champion. Champion ist nicht etwa einer unserer olympischen Medaillengewinner in Peking. So nennt sich eine Supermarktkette unterhalb des Dorfes, ein mit Werbeplakaten zugekleisterter Betonwürfel im Niemandsland eines Parkplatzes, nicht weit vom Fluss.

Bevor man die automatischen Türen passiert, die sich einem wie zwei gierige Tentakeln entgegenstrecken, sollte man eine Windjacke anziehen. Kälteempfindlichen Kunden rate ich beim Einkaufen zu einer Wollmütze. Denn man hat das Gefühl, einen gigantischen Kühlschrank zu betreten. Draußen Augustsonne des 21. Jahrhunderts. Drinnen Eiszeit. Blendendweißes Neonlicht. Völlig geruchsfrei, sogar im Käseregal. Alles ist kalt: die Butter ist gefroren wie ein Eisblock, die Pfirsiche aus Chile sind noch unreif. Sie sind hart wie Boulekugeln. Man reist in 80 Minuten um die Welt, während man seinen Einkaufswagen die schmalen Gänge entlang schiebt. Die Äpfel kommen aus Neuseeland, der Salat aus den Niederlanden, die Tomaten aus Spanien. Dabei liegt die Provence nur wenige Kilometer entfernt am Fuß der Alpen.

Wie oft habe ich mich über diese Berliner lustig gemacht, die im Koffer Schwarzbrot aus dem Bioladen an der Ecke mitnehmen, wenn sie nach Südfrankreich aufbrechen. Schwarzbrot! In der Provence! Und eine Woche lang bewundern sie diesen Betonblock wie einen Goldbarren! Als ich heute vor dem Brotregal stehe, erkenne ich, wie viel Klugheit in dieser Vorsichtsmaßnahme steckt.

„Was wollen Sie, in Frankreich haben die Leute keine Kohle mehr!“, sagt ein brummiger Kerl in rosa Bermudas mit apfelgrünem Unterhemd und Clogs. Er erinnert an eine Zeichentrickfigur, wie er so herumgestikuliert und einen Schwall von Schimpfwörtern gegen Nicolas Sarkozy loslässt, den Präsidenten, der den Franzosen eine wiedererstarkte Kaufkraft versprochen hatte. „Kaufkraft, leck mich doch am A…!“, krakeelt der Mann. Schnell gehe ich vorbei und drehe meine Orwellsche Runde weiter. Im Zickzack geht es voran, zwischen servierfertigem Apfelkuchen, Sauce Béarnaise im Becher, getrockneter Petersilie im Dosierbehälter, Omelette in der Tube, Suppe in Flocken, tiefgefrorenem Hackfleisch-Kartoffelbrei-Auflauf hindurch. Als wüsste in Frankreich niemand mehr, wie man einen Teig knetet, eine Sauce rührt, ein Bund Petersilie hackt, Eier schlägt. Ich stolpere über eine Kolonie Flaschen mit H-Milch, 0 Prozent Fett, angereichert mit Vitamin E, B, C, Eisen und Calcium gegen Osteoporose. Und ich stoße gegen eine hohe Mauer von Frühstücksflocken, genetisch verändert, vollgestopft mit Konservierungsstoffen und künstlichen Aromen. Ein Traum für einen Alchimisten auf der Suche nach Zutaten für seine Experimente! Kleiner nostalgischer Trost: Das koloniale Frankreich ist seit langem untergegangen, doch der liebenswürdige Neger mit dem roten Fes hat auf den Kakaopäckchen Marke Banania überlebt. Er lächelt mir mit seinen weißen Zähnen zu.

Die Kassiererin ist schlecht aufgelegt. Kein „Auf Wiedersehen und einen schönen Tag noch!“ nach einem kleinen Plausch über Wetter und Politik. Keine Beratung über die Kunst, einen Fleck auf dem neuen Hemd zu entfernen. Die automatische Tür spuckt einen auf den Asphalt des Parkplatzes. Fertig. Benommen, mit zwei Plastiktüten mehr und einer Handvoll Illusionen weniger, denke ich an den Markt in Berlin … und an das Schwarzbrot nach der Rückkehr.

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke.

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