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Mon BERLIN: Wo leben wir denn?

Zynische 68er, Schulkatastrophe, böse Krankheiten, unfähige Mütter, herrschsüchtige Männer, grässliches Wetter und wieder Schulkatastrophe, böse Krankheiten - das Jammern kann auch zwanghaft werden.

Ich habe mich in die Wiener Conditorei geflüchtet, um in Ruhe meine Zeitungen zu lesen. Diese so durch und durch Westberliner Institution hat mich schon immer fasziniert. Heute ist die Zusammensetzung des Publikums ein wahrer Augenschmaus. Vor mir: zwei in Anstand erstarrte alte Damen in karierten Blazern. Nahe dem großen Fenster: drei junge Russinnen und ihre Vuitton-Handtaschen. Sie sind in ein schweres Parfüm aus Moschus und Maiglöckchen gehüllt – perfekte Kombination für einen sofortigen Migräneanfall. Auf der Bank: Über einem Teller Rührei analysieren zwei Geschäftsmänner einen Finanzplan. Auf den Ablagen: hunderte Ostereier mit breiten Pastellschleifen. Die Wiener Conditorei ist ein sicheres warmes Nest, in dem der turbulente Vormittag der Stadt keinen Platz zu finden scheint.

„Links wählen, rechts leben … war doch immer so. Noch ein Latte macchiato?“ Die beiden Zehlendorferinnen im Blazer sind soeben in das Karussell des Weltelends eingestiegen: zynische 68er, Schulkatastrophe, böse Krankheiten, unfähige Mütter, herrschsüchtige Männer, grässliches Wetter und wieder Schulkatastrophe, böse Krankheiten … um und um drehen und wenden sie den Jammer, das Entsetzen, die Skandale. Die beiden Damen haben sich heute zum Frühstück getroffen. „Mein Mann fragt mich beim Aufstehen: Wo sind die Brötchen? Ich schnappe mir meine Handtasche. Du frühstückst heute allein. Und bye-bye!“ Leichten Schrittes ist sie entschwunden, von den Ketten befreit, stolz auf ihre Unverfrorenheit. Ich stelle mir den Ehemann vor, wie er verloren in der großen Küche steht. Ein ganz kleiner Tyrann, hilflos wie ein mutterloses Kind.

10 Uhr 30. Na, zum Wohl! Zwei Kelche Prosecco klingen aneinander. Eine schöne Gelegenheit, das Leben zu feiern und in das Gespräch heitere Elemente einfließen zu lassen, ein wenig Optimismus und Sonne, eine Brise der Leichtigkeit, einen Hauch Heiterkeit, ja sogar ein lautes Lachen. Aber ich höre nur entrüstete Detonationen. Sie explodieren in der wattigen Stille des Kaffeehauses. „Und das GING! … UNMÖG-LICH! Er SCHAFFT das!“ Die Damen unterstreichen ihre Indignation, indem sie jede Silbe isolieren, kleine trockene Hammerschläge knallen von ihren Lippen. Ich sage mir, dass der Ehemann eigentlich froh sein muss, wenn er heute Morgen allein in seiner Küche sitzt, ob mit oder ohne Brötchen.

Am Nebentisch hält eine junge Russin Händchen mit ihrem ältlichen Liebhaber. Ein recht großes Opfer für den Diamanten am Finger, finde ich, als ich die üppigen rosigen Lippen der Angelina Jolie vom Caffeehaus Roseneck sehe und daneben die grauen Wangen des alten Mannes, die wie erschöpfte Scheuerlappen herunterhängen. Die Schlüssel zum Sportwagen vor der Tür baumeln an seinen Fingern wie an einem Angelhaken. Plötzlich wird mir klar, wie ihm die Schöne ins Netz gegangen ist. Aber dank meiner Nachbarinnen kann ich das Funktionieren des so schlecht zusammenpassenden Gespanns leider nicht weiter analysieren.

„PRO RELI!“ Eine neue Runde ist eingeläutet. Und mir wird schummrig. „Wie schwer es für die Kinder ist … Deswegen MÜSSEN wir!“ verkündet sie mit einer Stimme aus Stahl und klopft dazu mit den Fingerspitzen auf den kleinen Tisch aus künstlichem Marmor. Sie gestikuliert wild, um ihre Gedanken ganz deutlich zu machen. Wie ein Dirigent schlägt sie zwanghaft den Takt des Elends. Piano die Tränen! Mezzoforte die Empörung! Fortissimo der Zorn!

„Wo LEBEN wir denn?“ Die Stinkbomben in den Kreuzberger Mülltonnen. Der Teufel in den Berliner Kinderzimmern. Während die Zehlendorferinnen das Leben schwarzmalen, rieselt ein Sonnenstrahl über die Tische. „In guter Gesellschaft genießen!“ lautet die Devise der Wiener Conditorei. Am liebsten würde ich meine Nachbarinnen kitzeln, um sie mal zum Lachen zu bringen. „JA, das wird IMMER schlimmer“, klagen sie im Chor. Innerlich pfeife ich vor mich hin. Always look on the bright side of life …

Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Thielicke. Von Pascale Hugues ist das Buch „Marthe und Mathilde“ erschienen (Rowohlt), in dem sie das Leben ihrer Großmütter erzählt.

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