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Meinung: Moral and more

Auch Gysi ist privat geflogen – er sollte nicht zurücktreten

Von Bernd Ulrich

Cem Özdemir und Gregor Gysi sollten im Urlaub Philipp Roth lesen. Der ohnehin ausgezeichnete amerikanische Autor übertrifft sich in seinem neuen Roman, „Der menschliche Makel“, selbst. Es gelingt ihm, klirrend klare Thesen aufzustellen und eine lehrreiche Geschichte zu erzählen, ohne dabei pädagogisch oder langweilig zu werden. Die zentrale These des Romans lautet: Wenn die ethische Beliebigkeit zu groß wird, fängt die Moral an zu vagabundieren. Das Bedürfnis nach Empörung schnellt an beliebigen Vorgängen beliebig hoch, jedes Gefühl für Proportionen geht verloren, wenn sich die Maschinerie öffentlicher Aufregung in Gang gesetzt hat. Dass die These von Roth auch in Deutschland zutrifft, zeigt die neueste Aufregung über die angeblich gierigen Politiker.

Wir wissen nicht, warum Cem Özdemir zurückgetreten ist, aber wir ahnen doch, dass die privat verflogenen Bonusmeilen dienstlich erflogener Kilometer der Grund nicht gewesen sein können. Zwar handelt es sich bei der Denaturierung öffentlicher Gelder um einen Verstoß gegen geltende Regeln. Aber um eine lässliche Sünde, denn die Vermischung privater und dienstlicher Bonusmeilen auf den Miles&More-Karten verführt zum Eigennutz. Und die Tatsache, dass der Bundestag Regeln aufstellt, die er bisher nicht kontrolliert, erst recht. Man darf davon ausgehen, dass Politiker dieser Verführung Dutzendweise, wenn nicht zu Hunderten nachgegeben haben.

Sie alle haben kunstvoll geschwiegen, als Özdemir ging. Nun hat sich der zweite sündige Flieger geoutet: Auch Gregor Gysi flog. Muss er nun zurücktreten? Lieber nicht. Und die vielen anderen Flieger bitte auch nicht. Es würde schon genügen, wenn sie das erflogene Geld zurückgeben, freiwillig, an den Bundestag, dem das Geld zusteht. Und dann sollte die Bundestagsverwaltung möglichst bald eine Form finden, wie Transparenz und Kontrolle hergestellt werden können. Damit wäre diese Angelegenheit erledigt.

Nicht erledigt ist jedoch die Frage, warum sich am kleinen menschlichen Makel so große Empörung festmacht. Denn wenn es nicht stimmt, dass Politiker ungewöhnlich gierig und egoistisch sind – warum sind sie dann als gierig und egoistisch verschrien?

Zum einen sicher, weil der Bürger sie als sein Alter Ego sehen will, als die bessere Seite von sich selbst, sie so aber natürlich nicht sind. Zum anderen, weil die Politiker zurzeit auf ihrem eigentlichen Feld tatsächlich keine sehr gute Arbeit machen. Probleme kommunizieren und lösen, das ist ihre Aufgabe, den Bürgern dienen, sie aber auch mit den Unausweichlichkeiten konfrontieren. Das tut die Politik in diesem Wahlkampf nicht. Daher die Desorientierung. Daher die frei flottierende Moral.

N 1 UND 4

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