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Museen und Archive: Bitte berühren

Geschichte zum Anfassen - Derzeit bewegen uns zwei Museen. Das Neue Museum in Berlin gerade neu eröffnet. Das Kölner Stadtarchiv zertört und in Ruinen. Wir sind auf der Suche nach dem Authentischen. Menschen hinterlassen Spuren. Der Versuch Altes im Neuen zu erhalten, bleibt dabei eine Vergeblichkeit.

Geschichte zum Anfassen – das erleben die Besucher des Neuen Museums in Berlin. Risse im Mauerwerk, Gebrauchsspuren, Kriegswunden, raue Oberflächen, behutsame Reparatur. Man streicht mit den Händen darüber, über das alte, aus Abbruchhäusern ergänzte Ziegelmauerwerk, über den feinen Betonwerkstein im neuen Treppenhaus oder den schimmernden Marblecement der Säulen. Man bückt sich hinunter zu den Mosaik- und Terrazzofußböden und blickt auf zu den Wandölgemälden oder den gewölbten Tontopfdecken. Geschichte als farbenfrohes, sinnliches, unendlich vielfältiges Material.

Geschichte zum Anfassen – dass so viel davon verloren ist, beklagt die Kulturnation nach der Katastrophe von Köln. Der Einsturz des Stadtarchivs zerstört das Gedächtnis eines Gemeinwesens, ein Schatzhaus voller Handschriften, Urkunden und Briefwechsel, voll von farbenfroher, sinnlicher, fasslicher Historie.

Warum beglückt das Neue Museum seine Besucher so sehr, warum schmerzt der Verlust von Köln? Gewiss versetzt uns die originale Bausubstanz des Stüler-Museums in Ehrfurcht und Staunen. Aber es ist vor allem die Lebendigkeit der Historie, die im Original weiterlebt, zumal wenn es so sorgfältig aufbewahrt wird wie in David Chipperfields ergänzender Wiederherstellung oder in den Archivkartons von Köln. Das Original verrät die Geschichten, die die Geschichte birgt. Keine Kopie, keine Stadtschloss-Replik, keinen Mikrofilm eines Böll-Manuskripts umgibt je die Aura des Authentischen. Deshalb manifestiert sich in Museen, diesen Tempeln der Fantasie, und in Archiven, diesen Umschlagplätzen der Überlieferung, ein Gespür für das Kontinuum und die Schicksalsschläge der Zeit. Die Ziegel, das Papier haben Generationen vor uns angefasst, unvermittelt gewahrt man ihre Nähe, ihre Gegenwart.

Gebrauchsspuren sind Menschenspuren. Zur Ehrfurcht gesellt sich ein Bewusstsein von der eigenen Ahnengalerie, dem Entwicklungsroman der Menschheitsfamilie. „Auch ist die Vergangenheit nicht eine verschwundene Zeit“, schreibt Jane Frame in „Ein Engel an meiner Tafel“; „sie sammelt sich an, und die Menge gleicht der Märchenfigur, der sich auf ihrem Weg immer mehr Gestalten anschließen“. David Chipperfield sagt es so: „Es geht weniger um die Vergangenheit als um die Zukunft.“ Bewahren und Erneuern, das ist beim Neuen Museum kein Gegensatz. Archäologische Ausstellungen sind ähnlich beliebt wie Science-Fiction. Wo kommen wir her, wo geht es hin? Über das Tagesgeschehen hinaus wollen wir manchmal das big picture, das ganz große Bild. Auch wenn es Traum bleibt, oder Alptraum.

Die Forschung spricht von Quellenmaterial, ein schönes Wort. Aus der Quelle speist sich der Strom der Zeit, bis heute. Auch der Wikipedia-Nutzer braucht mehr als elektronische Daten, er braucht Anschauung, Haptisches zur Selbstvergewisserung. Speicherdaten sind geruchs- und erlebnisneutral, tote Materie.

Bewahren und Erneuern, es bleibt eine große Vergeblichkeit. Die Menschen, ihre Bauwerke, ihre Zeugnisse, sie verblassen, verschwinden, werden vernichtet, unwiederbringlich. Auch das ist die Lehre von Köln – die Furie der Vergänglichkeit. Chipperfields Neues Museum erinnert daran, dass auch sie Spuren hinterlässt. Ein Vermächtnis, dessen Schönheit spätere Generationen entdecken. Das ist der Trost von Berlin.

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