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Meinung: Musik für Taube

Von Roger Boyes, The Times

Nein, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich glaube, wer Saisonkarten für die Philharmonie besitzt, spielt eine wichtige Rolle in der Kulturwirtschaft. Das sind wahrscheinlich ziemlich nette Leute. Aber Schönberg bringt auf jeden Fall nicht ihre besten Seiten hervor. Im ungemütlich beleuchteten Foyer voller CeausescuChic kippten die Musikliebhaber in der Pause zwischen Schönberg und Beethoven verzweifelt ihren Sekt herunter, gleichermaßen betäubt und erleichtert wirkend. Wie Schulkinder, die nach einem Zahnarztbesuch das versprochene Pistazieneis bekommen.

Die Konversation drehte sich, wie nicht anders zu erwarten, um das Liebesleben von Sir Simon Rattle – das ist zwar kompliziert, aber bei weitem nicht so undurchschaubar wie Schönbergs Atonalität. Macht es etwas, fragte jemand, dass Rattle seine Frau verlassen hat? Verändert es auf eine unterschwellige Art unsere Wahrnehmung seiner Dirigierfähigkeiten, unsere Beurteilung der Musik? Die männlichen Mitglieder der Sekt-und-Lachs-Runde waren sich sicher, dass das nicht der Fall war. Wie viele Komponisten hätten schließlich ein unberechenbares Liebesleben? Musik und Leidenschaft könne man nicht voneinander trennen. Aber in irgendeiner Weise (wie eine Frau bemerkte) machte Rattles Privatleben schon einen gewissen Unterschied. Dirigenten helfen uns dabei, unsere Emotionen zu organisieren. Sie führen uns durch die Unwägbarkeiten eines großen Kunstwerks, und wir müssen ihnen vertrauen, während wir ruhig dasitzen (oder, im Fall meines Saalnachbarn, geräuschvoll einen Husten unterdrücken). Unglückliche Lehrer sind schlechte Lehrer – vielleicht lässt sich das Gleiche über Dirigenten sagen. Vielleicht spielen ihre Schlafzimmergeschichten wirklich eine Rolle.

Die versteckte Traurigkeit der Philharmonie offenbarte sich allerdings erst nach der Vorführung. Eine taubstumme Frau legte ein funkelndes blaues Feuerzeug und einen Zettel auf unseren Tisch: Sie wollte eine Spende, oder dass jemand das Feuerzeug kaufe. Gott würde uns dafür belohnen, hatte sie geschrieben. Obwohl in den Köpfen noch die Musik des armen tauben Beethoven herumschwirrte, gab ihr niemand Geld. Berliner haben ein großes Herz, doch sie haben Angst davor, betrogen oder ausgelacht zu werden. Wer wusste schon, ob die Taubstumme nicht in Wirklichkeit eine Hochstaplerin war? Außerdem wurden die Gnocchi bereits kalt.

Taube Menschen müssen auf Musik verzichten und noch eine ganze Menge mehr. Was bedeutet ihnen zum Beispiel Simon Rattle? Er ist ein Schlüssel zu einer falschen Tür, eine Belanglosigkeit. Andererseits glaube ich, dass viele Taube in Berlin sich selbst nicht als Behinderte sehen, sondern als stolze Minderheit, die ihre eigene Kultur und Sprache pflegt. Durch neue Innenohrschnecken-Transplantationsmethoden, Stammzell- und Gentherapie wird man in Kürze viele Arten der Taubheit heilen können. Aber in Großbritannien – und in zunehmendem Maße auch in Deutschland – bestehen die Tauben auf ihrem persönlichen Recht, taub zu bleiben. Anders gesagt: Sie wählen freiwillig den Ausschluss aus der Welt der Musik. Das tun übrigens auch viele Leute mit perfektem Gehör, die die Musik aus ihrem Leben verbannen und lieber die Tagesschau oder den Tatort schauen.

Und daraus ergibt sich ein eigentlich viel interessanteres ethisches Dilemma als Sir Simons Ehekrise: Dürfen taube Eltern, die sich fürs Taubbleiben entschieden haben, ihren tauben Kindern eine Operation verbieten, die ihr Gehör verbessern würde? Das passiert immer öfter, sagen die Ärzte. Ich meine, Kinder gleich welchen Gesundheitszustands haben das Grundrecht darauf, Beethoven hören zu dürfen. Und, ja, sogar Schönberg.

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