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Meinung: Mutprobe für Rot-Grün

Von Ursula Weidenfeld Es gab viele, die die Ergebnisse der so genannten Hartz-Kommission am liebsten erst nach dem 22. September zur Kenntnis genommen hätten.

Von Ursula Weidenfeld

Es gab viele, die die Ergebnisse der so genannten Hartz-Kommission am liebsten erst nach dem 22. September zur Kenntnis genommen hätten. Reformen macht man nach der Wahl, heißt die politische Devise. Und man kündigt sie nicht vorher an. Sonst verliert man die Wahl. Doch es gab einen, der die Ergebnisse schnell sehen wollte, der richtig Druck machte: Gerhard Schröder. Der Kanzler drängte Peter Hartz, noch vor der politischen Sommerpause Eckpunkte für die umfassende Reform des Arbeitsmarktes vorzulegen. Hartz folgte.

Das, was jetzt auf dem Tisch liegt, ist die Blaupause für die wohl umfassendste Sozialreform, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt je geplant wurde. Wer sich diese Vorschläge im politischen Raum zu Eigen macht, hat nicht nur ein Wahlkampfthema. Er wird an den Ergebnissen am 22. September feststellen können, ob in Deutschland tatsächlich Reste von Reformbereitschaft vorhanden sind. Oder ob das Kartell auf dem deutschen Arbeitsmarkt immer noch gut genug funktioniert, um jede Bewegung zu verhindern. Nicht nur die Regierung steht am Scheideweg. Auch die Opposition. Edmund Stoiber wird sich entscheiden müssen, ob er mit einem Reformversprechen in die Wahl geht. Oder ob er darauf setzt, dass die meisten Deutschen wollen, dass alles so bleibt, wie es ist – solange, bis nichts mehr geht.

Es ist nicht ausgeschlossen, dass man mit den ersten Vorschlägen der Hartz-Leute eine Wahl gewinnen kann. Denn das Hartz-Konzept ist zwar eine radikale Reform, aber kein Nullsummenspiel. Es gibt keine Verlierer. Es ist eine geschickte Kombination aus Zumutungen und Wohltaten für alle Seiten. Genau so, wie der Volkswagen-Personalvorstand in Wolfsburg die sperrige IG Metall am Ende immer wieder für seine Experimente gewonnen hat, wirbt er diesmal. Nur, dass es jetzt ums Ganze geht.

Die Arbeitnehmer müssen nach Hartz’ Vorstellungen flexibler werden. Nach einer Übergangszeit in der Arbeitslosigkeit werden sie an Personalvermittlungsagenturen weitergereicht. Wie Arbeitnehmer in Zeitarbeit müssen sie dem Arbeitsmarkt auch für kurze Beschäftigungszeiten zur Verfügung stehen. Kommen sie bei einem der Unternehmen, für das sie arbeiten, gut an, müssen sie die Stelle akzeptieren, auch wenn sie unterhalb ihrer Qualifikation liegt. Wahrscheinlich wird dadurch das allgemeine Lohnniveau mittelfristig sinken, doch es werden mehr Leute reguläre Arbeit finden.

Das sind die Zumutungen für die Arbeitnehmerseite. Die Wohltaten: Niemand wird in der Arbeitslosenversicherung erst einmal schlechter gestellt als bisher. Die Arbeitnehmer werden in einem tariflich geregelten Raum arbeiten. Die Zeitarbeit, bisher mit dem Geruch der Lohndumperei behaftet, wird zu einem geregelten Arbeitsmarkt. Auch Arbeitslose, die bisher keine Chance auf dem Arbeitsmarkt hatten, können wieder arbeiten. Und Schwarzarbeiter: Durch die vorgesehene Pauschalbesteuerung von Nebentätigkeiten neben der Arbeitslosigkeit wird der Schwarzarbeitsmarkt zumindest teilweise wieder in die Legalität geholt.

Auch die Arbeitgeber werden mit einer Mischung von Zugeständnissen und Zumutungen geködert: Sie können bei den Agenturen Beschäftigte entleihen: um auszuprobieren, ob jemand für einen Dauerjob in Frage kommt. Oder nur für ein paar Wochen, um Überstunden zu vermeiden. Im Gegenzug müssen sie alle offenen Stellen melden, wenn sie Leute entleihen wollen. Das war bisher ein Tabu auf der Arbeitgeberseite.

Eine dritte Gruppe muss ebenfalls neu denken: die Vermittler vom Arbeitsamt. Sie werden künftig mit privaten Unternehmen konkurrieren müssen, wenn sie eine Personalvermittlungsagentur übernehmen wollen. Das Arbeitsamt selbst wird zu einer reinen Leistungsbehörde umgebaut. Wer dort sitzen bleibt, wird außer der Berechnung und der Auszahlung nicht mehr viel zu tun haben. Der attraktivere Job wird der in der Agentur, einem Unternehmen, sein.

Der Kanzler wird sich in den nächsten Tagen entscheiden, wie er sich zu diesen Vorschlägen verhält. Er kann sie in die Tonne treten - wie er es im vergangenen Jahr mit den bemerkenswerten Ergebnissen gemacht hat, die die Wissenschaftlergruppe im Bündnis für Arbeit herausgearbeitet hat. Er kann sie aber auch aufnehmen und zu seinem Wahlkampfthema machen. Dazu müsste er die Gewerkschaften gewinnen – die ihn seit Tagen offen warnen, das gerade gewonnene Vertrauen nicht zu zerstören. Der Kanzler braucht Mut, um sich diesen Drohungen entgegenzustellen. Den Mut, die Wahl zu verlieren. Nur: Ohne ein zentrales Wahlkampfthema wird er sie nicht mehr gewinnen.

Es wäre die Wette wert.

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