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My BERLIN: Dalai Lama? Dalli Dalli!

Der Marsch über die Oder von Frankfurt nach Slubice ist Gunters Form von Sport. Ein langer Weg, könnte man meinen, nur um eine zu rauchen.

Slubice hat keinen Charme, aber es gibt dort Kneipen, wo man nach dem Zigeunerspieß eine Zigarette anzünden kann, wie früher. Die „Times“ war der Meinung, dass dies untersuchungswürdig sei und schickte mich an die Grenze, um eine Marlboro zu rauchen und ein Zywiec zu trinken.

Wie üblich hatte meine Redaktion nur einen Teil der Geschichte mitbekommen. Es ist schlicht viel billiger, sich in Slubice zu besaufen als in Frankfurt. Der „London Pub“ war der logische Start für meine Untersuchung, dort stieß ich aber nur auf deprimierte Polen. Schließlich fand ich ein Restaurant, wo die Brandenburger von ihrer Freiheit Gebrauch machten. Ich setzte mich zu einer Gruppe aus Schwedt und da man ja nicht nur über Tabakabhängigkeit reden kann, nahmen wir uns die Probleme dieser Welt vor. Gunter, ein zerknitterter 40-Jähriger, hatte seiner Frau gesagt, er fahre über die Grenze, um zu tanken und Zigaretten zu kaufen. Gunter war ein Fan von Roland Koch. Was auch immer die Umfragen sagen – er kann auf die Unterstützung vieler, vieler Gunters bauen. Erziehungscamps, sagte er, als er die Vorteile einer zukünftigen Koch-Junta durchging. Familienwerte. Disziplin. „Dalai Lama“, sagte ich wegen Kochs Guru. „Genau, sagte er, Dalli Dalli.“ Und natürlich die Gefahr der Einwanderung. Ahnungslos, dass er gerade selber im europäischen Ausland weilte, spuckte Gunter es aus: „Scheiß Ausländer!“

Das machte mich nachdenklich. Nicht so sehr über die Wirkung von Zywiec-Pils auf das Hirn eines Hartz-IV-Touristen wie Gunter, sondern über unsichtbare Grenzen. Polen wurde von den Brandenburgern einst als Gefahr wahrgenommen; die Angst schmilzt dahin. Das begann schon vor der EU-Erweiterung 2004: Ein Geschäftsmann transportierte jeden Tag die Laken aus dem Adlon nach Polen, um sie dort waschen zu lassen; ein anderer fuhr Leichen nach Stettin ins Krematorium und kam mit der Asche zurück. Inzwischen ist die Grenze durchlässig. Polnische Mediziner arbeiten jenseits der Grenze als Landärzte, Polen kaufen Häuser in Deutschland und pendeln zur Arbeit. Niemand spricht mehr von Gastarbeitern, die Jobs wegnehmen. Der Wohlstand Westpolens ist in Ostdeutschland zu spüren.

Äußere Grenzen waren früher die Ursache von Konflikten. Nun, wenigstens in Europa, gibt es innere Grenzen. Die kann man weniger leicht identifizieren, und man kann es Herrn Koch anrechnen, dass er wenigstens versucht hat, die von der politischen Korrektheit verdeckten Brüche aufzuzeigen. Die ganze Debatte beruhte darauf, dass zwei junge Männer, die fast einen Rentner in der Münchner U-Bahn umgebracht hatten, „Scheiß Deutsche!“ gerufen haben. Wäre es „Alter Knacker!“ gewesen, die Debatte hätte nie stattgefunden. „Scheiß Deutsche“ erlaubt es den Deutschen jedoch zu glauben, sie wären eine gefährdete Minderheit in ihrem eigenen Land, denn es ist das direkte Gegenstück zu dem viel bedrohlicheren „Scheiß Ausländer“, das Leute wie Gunter zehnmal am Tag von sich geben. Dieses Ressentiment – dass das Land von einer ausländischen Unterschicht überschwemmt wird – ist irrational. Keine Fakten belegen das.

Koch macht Angstpolitik, indem er vornehmlich auf imaginierte Feinde zeigt. Aber auch wenn seine Antworten falsch sind – er stellt wichtige Fragen.

Kann ein guter Muslim je ein guter Deutscher sein? Wenn nicht, warum nicht? Ist der Islam per se intolerant – oder stimmt etwas nicht mit unserer Definition von Deutschsein? Und: Wo sollte die Macht des Staates enden? Im Namen des Multikulturalismus haben wir zu lange sogenannte Ehrenmorde und Zwangsverheiratung ignoriert und – wie Caroline Fetscher brillant im Tagesspiegel deutlich gemacht hat – Gewalt von Migranteneltern gegen ihre Kinder.

Die wichtigste, subtilste Grenze von allen ist jedoch die zwischen Kindheit und dem Erwachsensein. Wo beginnt das eine, wo endet das andere? Wie sollte die schützende Rolle des Staates an dieser Grenze aussehen? Leider kann man mit diesem Thema keine Wahlen gewinnen. Es ist komplex und verlangt Zivilcourage von jedem, der hört, dass der Nachbar seine Kinder mit dem Ledergürtel bestraft. Wähler werden durch Angst mobilisiert, das war schon immer so. Vielleicht wird Koch seine Wahl gewinnen. Aber er disqualifiziert sich so als möglicher Kanzlerkandidat. Das ist schade: Deutschland braucht Politiker wie Koch, die unangenehme Fragen stellen. Es braucht keine Politiker wie Koch, die mit ihren Antworten die Hysterie weiter anheizen wollen.

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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