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My BERLIN: Das wahre Mysterium von Weihnachten

Man braucht nicht Albert Einstein, um zu beweisen, dass sich unser Verständnis von Zeit immer vor Weihnachten verändert. Jeder Journalist, der etwas auf sich hält, möchte den ersten Schokoweihnachtsmann des Jahres ausfindig machen – Karstadt, Wilmersdorfer Straße, 29.

Man braucht nicht Albert Einstein, um zu beweisen, dass sich unser Verständnis von Zeit immer vor Weihnachten verändert. Jeder Journalist, der etwas auf sich hält, möchte den ersten Schokoweihnachtsmann des Jahres ausfindig machen – Karstadt, Wilmersdorfer Straße, 29. August –, aber nach diesem Wettkampf sinkt das Interesse an Weihnachten wieder. Die wichtigen Tage kommen und gehen: 9. November, Sie wissen schon; der 11. November, der Tag, an dem 63 Prozent der Deutschen ihren Sommerurlaub buchen; der erste Advent; und plötzlich, ungefähr eine Woche nachdem der Heilige Nikolaus in perverser Weise an den Schuhen unserer Kinder herumgeschnüffelt hat, fällt es einem wie Schuppen von den Augen: In wenigen Tagen ist Heiliger Abend. Und ist man ein Mann der Spezies Homo Berlinicus, fällt einem dabei auf, dass man noch nichts für niemanden gekauft hat. Wieder einmal hat sich Weihnachten von hinten angeschlichen wie ein sardischer Räuber.

Das ist, natürlich, ein männliches Phänomen. Frauen leben in anderen Zeitzyklen. Männer sind stolz darauf, unter Druck arbeiten zu können; das sei eine Stärke, eine heroische Tugend, keine Kapitulation vor der eigenen Panik. Gleichzeitig wissen wir, dass eine vorhersehbare Krise harten wissenschaftlichen Prinzipien ausgesetzt sein sollte. Das erste: beobachten. Wer das Glück hat, auf kleine Kinder zurückgreifen zu können, sollte sie als wissenschaftliche Assistenten engagieren: „Ist euch aufgefallen, dass eure Mutter in jüngster Zeit in Schaufenster geschaut hat? Von Bekleidungsgeschäften?“

Selbst Kinder mit Adleraugen reagieren auf diese Herangehensweise meistens unbefriedigend. Was wissen sie auch schon über Läden? Sie kennen ja kaum das Wesen des Geldes. Also ein bisschen mehr Druck: Mama war, wie es aussieht, vor kurzem mit den Kindern bei Niketown und hat Laufschuhe anprobiert. Mit diesem Brocken ist nichts anzufangen. Warum will sie im Schnee joggen? Warum hat sie über ihre sportlichen Pläne nicht gesprochen? Wo will sie laufen? Vor allem: wann?

Mehr Information ist nötig. Die Kinder werden mit einem Besuch auf dem Weihnachtsmarkt bestochen, eine so furchtbare Veranstaltung, dass sie nach England exportiert wurde, wo sie wie in Berlin zum Treffpunkt für die besten Taschendiebe des Landes und zum Ziel für Al Qaida wurde. Ein Sonntagnachmittag allein mit den Kindern: gute Gelegenheit, sie auszuquetschen. Aber nein, der Weihnachtsmarkt ist natürlich ein Ort, zu dem die Familie als Ganzes pilgert – einschließlich der Mutter.

In der Not fragt man dann einen Arbeitskollegen um Rat. Der blickt nur glasig. „Chanel No. 5“, sagt der Idiot aus der Marketingabteilung, dem man in der Kantine immer aus dem Weg geht, „geht immer“. Ein absurder Vorschlag. Die Vorstellung, zu Douglas zu gehen, wirkt allein schon wie ein Sieg des vulgären Kommerzes. Wozu hatten wir ’68, wenn man sich nun von gegelten Werbetypen aus Hamburg manipulieren lässt? Und versucht, die Frau selbst geruchstechnisch zu manipulieren? Aber was soll’s, eine Untersuchung ihres Badezimmerregals kann ja nicht schaden. Nur um sich in sie hineinzuversetzen.

Auf diesem Weg kommt man aber auch nicht an gute Informationen. Die Kinder funktionieren nicht gut als Mini-Mossad-Schnüffler und die Arbeitskollegen sind erwartungsgemäß hohl. Homo Berlinicus könnte natürlich die Freundinnen der Frau fragen. Damit gibt er sich jedoch dem Gespött preis. Er zieht es also vor, mit unvollständiger Information voranzuschreiten.

„Wie wär’s mit Unterwäsche?“, fragt der Weihnachtsforscher im Büro, so leise, dass die Kolleginnen es nicht hören können. „Seide? Schön!“, sagt der junge Mann, der einem vermutlich den Job abluchsen will. Sein Enthusiasmus beweist Homo Berlinicus, dass das die falsche Wahl ist. Und dann, dann ist es einfach zu spät: die Weihnachtsfeiern, die Schwiegermutter, die eingesammelt und vor der Glotze geparkt werden muss. Nun bleibt nur noch die panische Suche im Internet. Ein Kaschmirpulli ist zu kompliziert wegen der Größe. Handtaschen, und auch alles andere zu sexistisch, banal oder unpassend. Also, von Amazon, Lieferung am nächsten Tag: Ernst Jüngers Tagebücher. Angeblich ein gutes Buch.

Und so verläuft der große Tag wie immer, nettes Lächeln, Küsschen auf die Wange, Erschöpfung auf allen Seiten.

Aber das Rätsel bleibt: Warum hat sie bei Niketown Laufschuhe anprobiert? Das ist das wahre Mysterium von Weihnachten. Wie schaffen es Frauen, die uns so nah sind, ihre geheimen Leben zu leben und ihre Gedanken und Vorlieben so gut versteckt zu halten?

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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