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My BERLIN: Der Aufstand der jungen Spießer

Von Roger Boyes, The Times

In den letzten Wochen hat mich die Frage umgetrieben: warum Heiligendamm? Klar, es ist hübsch und elegant dort. Aber die hohen Sicherheitskosten, dieser absurde Zaun, der zum furchtbaren Bild der nächsten Tage werden wird, zum Symbol für den Graben zwischen den Zigarren paffenden, Châteauneuf-du-Pape schlürfenden G-8-Führern und dem Rest der Welt, all das hätte vermieden werden können, wenn der Gipfel auf einem Schiff abgehalten worden wäre. Ich stelle mir das wie ein Traumschiff vor, mit einer Crew in weißen Uniformen und Angela Merkel als Chefstewardess, die erklärt: „Willkommen an Bord.“

Aber natürlich, wenn die Regierung den Anker gelichtet hätte, wäre uns auch eines der außergewöhnlichsten politischen Märchen der letzten Jahre erspart geblieben: der Mythos des neuen linksextremen Terrors, der dabei ist, gegen das Herz des demokratischen Staates zuzuschlagen. Diese Pulp Fiction, die wohl von übereifrigen Mitgliedern des Verfassungsschutzes aufgeschrieben wurde, diente dazu, Post abzufangen, umfassende Telefonabhörmaßnahmen durchzuführen, Gerüche und Speichelproben zu nehmen.

Die Terrorangst entspringt einer offenbar tief verwurzelten Befürchtung, dass eine unruhige und naive Protestbewegung sich von Hardlinern verführen lässt. Es ist der Albtraum von 1967/68, der die Schäuble-Generation verfolgt. Eine große Koalition führt zu einer APO, lautet das Argument, und eine APO splittet sich auf: in Straßenproteste und kleinere Zellen von Gewalttätern, aber die verschiedenen Flügel bleiben durch gemeinsame Gefühle und Dogmen verbunden. Schäuble, selbst ein Opfer politischer Gewalt, scheint sich vor dem Benno-Ohnesorg-Moment zu fürchten.

Natürlich, Ralf Reinders war in Berlin auf einer Demo, Inge Viett hat sich unter die Menge gemischt, und ein paar Teenager haben Spruchbänder hochgehalten, auf denen „Befreit Christian Klar“ stand. Für manche sind diese Leute Helden geblieben, weil sie im Gefängnis keine Reue gezeigt haben. Aber das macht sie nicht zu Anführern: Sie benutzen nicht einmal ein verständliches Vokabular. Im Knast scheinen sie Habermas gelesen zu haben; eine furchtbare, selbst auferlegte Strafe.

Nun, vielleicht weiß der Verfassungsschutz ja etwas, was ich nicht weiß. Vielleicht ähneln die Antiglobalisierer tatsächlich der Studentenbewegung der 60er. Und vielleicht gibt es tatsächlich finstere Pläne, die die Corega-Tabs-Terroristen gemeinsam mit den großäugigen Teenagern in ihren pseudomilitanten T-Shirts ausheckten. Es lohnte sich, das mal zu überprüfen.

So habe ich also meine Woche zugebracht: Blockadetraining im Görlitzer Park, kurz vor einem Sturm. 20, 30 Menschen auf Yogamatten, die meisten davon Frauen, aber keine Pali-Tuch-Tussis. Eher wie Angestellte der Deutschen Telekom, mit Strandtaschen und Wechselschuhen. Seien wir ehrlich: Niemand muss einem Telekom-Arbeiter die Kunst der Blockade erklären. „Wenn die Polizei euch aufhebt“, sagte der Trainer, „stellt euch tot, lasst eure Glieder ganz schwer werden.“ Die Telekom ist darin sehr gut.

Der Mehringhof war selbst nach einer Polizeiaktion so revolutionär wie ein Butterkuchen. Ein junger Mann telefonierte gerade, um eine Fleischerei in Bad Doberan davon zu überzeugen, dass sie nicht von militanten Veganern angegriffen würde. Am G-8-Infopunkt im Bethanienhaus fragte eine Möchtegern-Revolutionärin, ob sie am Sonntag einen Bus zurück aus Heiligendamm bekommen würde – um rechtzeitig zum Geburtstag ihrer Mutter zu Hause zu sein. Das ist der Aufstand der jungen Spießer.

Mir wurde geraten, die Oderberger Straße in Prenzlauer Berg zu versuchen. Offensichtlich waren einige Anführer der „Interventionistischen Linken“ dort gesehen worden. Aber wo anfangen? Die Straße ist voller Kneipen, die als Heimat für die neuen Bolschewisten dienen könnten. Die „Rote Lotte“ gegenüber dem Feuerwehrhaus war der wahrscheinlichste Ort – Rote Flora, Rote Zora, Rote Nase. Sie ist nach der Kommunistin Liselotte Herrmann benannt, die von den Nazis gehängt wurde, aber es ist eine Kneipe wie ein gemütliches Wohnzimmer, mit alten Möbeln, guten Drinks, cooler Bedienung – und kein Heiligendamm-Verschwörer in Sicht.

Dann sah ich plötzlich ein verdächtiges Paar. Ein Mann mit ergrauendem Haar, physisch wie einer der Helden der ARD-Steinzeitserie, aber höchstwahrscheinlich ein Soziologiedozent, der sich zu einer jungen Frau hinüberbeugte. Sie hatte sogar – Heureka! – eine Ausgabe von Naomi Kleins Antiglobalisierungsbibel „No Logo“. Ich bewegte mich in ihre Richtung, aber der Steinzeit-Soziologe stand auf und sagte zu ihr: „Ich sehe dich dann später. Ich muss noch zum Hauptbahnhof, um meine Pillen abzuholen.“ Von der APO-Theke zur Apotheke: Vergessen Sie die 68er-Generation, Herr Schäuble. Wenn die Revolution kommt, werden sie im Wartezimmer ihres Arztes sitzen und Cholesterin-Tabletten abholen.

Übersetzt von Clemens Wergin.

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