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My BERLIN: Eine Frage der Ehre

Roger Boyes ist auf der Suche nach einem Lebensgefühl, dass aus der Mode geraten ist.

Erst spät wurden an der Otto- Suhr-Allee die Lichter gelöscht: Es herrscht immer große Aufregung in der Scientology-Zentrale, wenn Tom Cruise in der Stadt ist. Doch diesmal werden sie sich dort die Hände vor Freude gerieben haben: Ein erstklassiger Spendensammler spielt einen modernen deutschen Helden. Schulklassen werden in die Kinos strömen, neunjährige Mädchen sich in ihn verlieben – ein gelungener Streich der subversiv-leisen Propagandamaschine dieser merkwürdigen Sekte.

Ich hatte eigentlich nie etwas gegen Tom-Tom als Stauffenberg. Wenn es nach mir ginge, könnte er den Papst spielen (er müsste dann etwas an seinem deutschen Akzent feilen). Cruise ist ein Schauspieler und kein schlechter, solange er das spielt, was er kann: den Action-Helden. Das mit Scientology stört mich nicht. Sie gehen mir aus dem Weg, wenn ich auf dem Ku’damm an ihnen vorbeilaufe, vielleicht weil sie merken, dass mein Stresslevel so astronomisch hoch ist, dass er ihre Voodoo-Dianetik überfordert.

Und auch der Film ist nicht schlecht. Das Problem liegt nicht darin, dass Tom ein Freak mit Gehirnwäsche ist, der einen schwäbischen Adligen spielt. Auch nicht, dass wir das Ende bereits kennen (an die jungen Leser: Hitler lebte nach dem Attentat noch neun weitere Monate). Das Problem ist vielmehr, dass er Stauffenberg in einen amerikanischen Helden verwandelt, einen von der Art, die das Publikum vor Aufregung auf die Sesselkante rutschen lässt, während er die Welt rettet.

Aber Stauffenberg war ein deutscher, kein Hollywoodheld und seine Motivation war eine altmodische: die Ehre einer Militärschicht zu retten, die sich durch ihre Hitler-Hörigkeit und ihr zweifelhaftes Verhalten an der Ostfront diskreditiert hatte. Kein Wunder, dass Cruise das nicht hinkriegt – Ehre überlässt man in Hollywood den Anwälten. Aber auch die jüngeren Deutschen können damit nichts mehr anfangen.

Deshalb herrschte auch die Verwirrung, als Adolf Merckle sich umbrachte. Ich saß in einem Zugabteil neben einem Paar in den Dreißigern, als sie über den Fall Merckle redeten. „Er hätte noch hunderte Millionen gehabt, kein Grund also, sich umzubringen“, sagte die Frau und wies auf den „Spiegel“, der von einem „archaischen Tod“ geschrieben hatte. „Stimmt“, sagte ihr Begleiter, „er hätte das Leben genießen können, sich eine Jacht kaufen.“

Ich war kurz davor, ihm eine runterzuhauen. Merckle konnte es offenbar nicht ertragen, seinen Großvater und Vater zu enttäuschen, die die ursprüngliche Medikamentenfirma gegründet hatten. Was ihn gebrochen hat, war nicht der Millionenverlust, die Enttäuschung seiner Kinder oder die Arbeitslosigkeit seiner Angestellten. Der erzwungene Verkauf von Ratiopharm bedeutete das Ende einer Familientradition. Ihn trieb die Suche nach Anerkennung durch den Vater an, und er enttäuschte sich selbst – aus Schwäche und schlechten Entscheidungen. Und deshalb warf er sich vor einen Zug – als einem Fall von Ehre.

Nicht viele unter uns wären dafür, wenn Deutschland sich die japanische Harakiri-Tradition an eignete. Aber wäre es so schlecht, wenn wir die Idee von Ehre wiederbelebten? Nicht so sehr das Leben lassen für ein Ideal, aber durchaus die eigenen Vorteile zu opfern? Ist in dem Verhalten von Andrea Ypsilanti irgendeine Form von Ehre zu erkennen? Vielen lief es kalt den Rücken runter, als sie am vergangenen Sonntag ihre Erklärung abgab („ich resigniere nicht …“).

Politiker trugen früher die Verantwortung nicht nur für ihr eigenes Handeln, sondern auch das in ihren Bereichen. Wir erleben gerade eine Finanzkrise, die auch durch die nachlässige Kontrolle der politischen Klasse möglich geworden ist. Mit der Konsequenz, dass Millionen ihren Job verlieren werden. Aber nicht ein einziger Politiker, kein einziger Zentral banker, kein einziges Mitglied einer Regulierungsbehörde hat den Rücktritt angeboten. Politiker treten zurück – aber nur wenn die Medien sie untragbar gemacht haben für ihre Parteien. Es gibt keine interne Norm.

Ehre ist ein unausgesprochener Kontrakt, eine Verpflichtung, die mit einer privilegierten Position oder mit Verantwortung einhergeht. Eine Periode politischer Instabilität steht uns bevor. Es gab Proteste in Bulgarien, Griechenland, Lettland, Island. Gesellschaften am Rand der Krise. Aber sie teilen den Ärger über die politische Klasse, ihr Unvermögen, die Wirtschaftskrise vorauszusehen. Politiker, Banker müssen nun Antworten geben und Schuld an erkennen. Sonst wird sich der Vertrauensverlust in die Finanziers zu einer allgemeinen Verachtung für das Führungspersonal ausweiten. Bevor das passiert, sollten die Politiker – alle – anfangen, sich der Lage ehrenvoll zu stellen.

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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