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My BERLIN: Grüne Weihnachten auf dem Mont Klamott

Bis der Anruf kam, sah es nach einem typischen Durchschnittsweihnachten aus: Christbaum klauen, Geschenkliste verdrängen, Ku’damm vermeiden, Glühwein sowieso. Überleben also, auf allerniedrigstem Niveau. Dann kam der Anruf der "Times".

Im finnischen Lappland, sagte der talentierte junge Redakteur, gäbe es eine Stadt namens Rovaniemi. Die habe eine Akademie für Weihnachtsmänner, ein College für Elfen, eine Spielzeugwerkstatt, eine spezielle Post – und mehr Huskies als Menschen. Tausende britischer Familien flögen dort mit ihren verwöhnten, nasebohrenden Kindern hin. Die Hauptstadt des Kitsches. Ein wahrer Albtraum. Und, fragte der Redakteur, könnte ich hinfahren? Jetzt?

Ich hätte im Journalismus nicht so lange überleben können, wenn ich nicht verstanden hätte, was ein Auftrag ist und was nicht. Die Logik dahinter, sagte der Redaktionsknirps, bestünde nicht nur darin, dass ich ein ausgewiesener Weihnachtsmuffel bin. Ich hatte die Finnen kürzlich verärgert, als ich sie waffenvernarrte Melancholiker genannt hatte. Jetzt also die Chance auf eine Art saisonale Goodwill-Geste, ein Akt der Versöhnung nicht nur gegenüber diesem globalen Schwindel, den der unecht-bärtige Weihnachtsmann verkörpert (und dessen ausdauernde Fröhlichkeit nur Kokainkonsum zu verdanken ist), sondern auch gegenüber den sauren Finnen.

Während Sie also diese Zeilen lesen, denken Sie einen Moment an mich – ich bin in irgendeiner verdammten Rentier-Farm im nördlichen Polarkreis, umgeben von sabbelnden, ungebildeten Kindern aus Manchester. Nicht „My Berlin“ also, eher „Mein Iglu“. Die Briten sind wohl deshalb auf Lappland gekommen, weil sie nach dem „authentischen“ Weihnachten suchen, das von unserer Insel fast verschwunden ist. Die Supermärkte haben länger auf als die Kirchen, die Bäume sind aus Plastik und Made in China. Und Schnee gibt es auch keinen. Nicht zuletzt deshalb mache ich die Musikindustrie für meine Lage verantwortlich. Jede Telefonwarteschleife, jedes Kaufhaus lässt „Let it snow, let it snow“ oder „White Christmas“ oder „Jingle Bells“ auf uns herabrieseln.

Die Erderwärmung hat mit dem Konzept des Saisonschnees Schluss gemacht. Das letzte Mal, dass es in Berlin Weihnachten wirklich geschneit hat, war 2001. Seitdem gab es Zwischenspiele, doch die erinnerten eher an Hautausschlag als an ein romantisches Abenteuer. Heutzutage ist der Berliner Schnee dank Feinstaub bereits grau, wenn er zur Erde flattert – und wird Schneematsch, ehe er überhaupt eine Chance hat, die Kinder zu bezaubern.

Berlin, das war in meiner Vorstellung immer ein richtiger Weihnachtsort. Es gab keinen Grund, mit Finnair Richtung Norden zu fliegen. Berlin eignet sich ganz wunderbar für Kerzen, Adventsplätzchen und zum Zuhausebleiben.

Zu den eindrücklichsten Bildern Berlins zählen Winterlandschaften. Meine Nachbarin erinnert sich an das frostige Weihnachten nach dem Mauerbau 1961: Es war, sagt sie, als hätte der Kalte Krieg das Wetter unterstützt. Beim Blick auf die Statistiken in der Dahlemer Wetterwarte fällt auf, dass weiße Weihnachten oft in Krisenzeiten kamen. Es ist, als würde der Schnee nicht nur die Konturen der Gebäude verwischen, die Stimmung ändern und den Körper verlangsamen – er scheint auch unruhige Jahre reinwaschen zu wollen: Laut Statistik fielen in den vergangenen 112 Jahren auf ein weißes Weihnachten sechs grüne, doch fast immer kamen die schneereichen in kritischen Momenten: 2001, als wir noch unter dem Schock des 9/11 waren; 1981, nach der Ausrufung des Kriegsrechts im benachbarten Polen; 1956, ein paar Monate nach dem blutigen Ende der Revolution in Ungarn; 1938, am Rande des Krieges; 1928, im Griff der Wirtschaftskrise. Schwierige Weihnachten – und alle weiß.

Als Weihnachtszyniker bevorzuge ich den Februar – den letzten Atemzug des Winters. Ein letztes Mal eingefrorene Autoschlösser, ein letzter Spaziergang über den zugefrorenen Grunewaldsee. Vielleicht verschwinden selbst diese Momente. Erinnern Sie sich daran, wie die Berliner wie selbstverständlich auf dem Mont Klamott Ski liefen? Weihnachten 1986, als der Slalom-Weltcup dort gastierte? Na gut, ein bisschen Kunstschnee war schon damals im Spiel. Und doch war es für kurze Zeit, als kämen die Alpen nach Preußen. Schnee ist aus dem Berliner Stadtbild, aus unseren Leben verschwunden. Berlins Kinder lernen nicht mehr in Lübars Ski laufen; stattdessen gehen sie entweder auf teure Klassenfahrten nach Österreich – oder sie lernen es erst gar nicht. Ski laufen ist nicht mehr cool. Und Berlin hat durch den Klimawandel eine seiner Traditionen verloren.

Wer als Berliner doch noch etwas Schnee sehen will, den lade ich herzlich ein, sich mir in meinem derzeitigen Exil am nördlichen Polarkreis anzuschließen. In meinem Iglu ist viel Platz. Wenn Sie in die Stadt kommen, fragen Sie einfach nach dem nörgelnden Engländer.

Aus dem Englischen übersetzt von Sebastian Bickerich.

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