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My BERLIN: Ich bin eine Polaroid

Die Polaroidkamera umgab etwas Magisches – nicht nachvollziehbar für die heutigen Digitalkamerabesitzer und hektischen Handyfotografen: jene 60 Sekunden, in denen das Bild Form und Farbe annahm. Das war Alchemie.

Im totalen Chaos meiner Fotoschublade lassen sich nur sehr wenige Bilder von mir finden. Auf dem einem: ich als Schüler mit fledermausartigen Johannes-B.- Kerner-Ohren. Ein anderes zeigt mich beim Buddeln. Mehr von mir gibt es nicht, neben all den Familienbildern. Erstgeborene Kinder werden als Babys viel fotografiert, hat mir ein Historiker erklärt, ihre späteren Aktivitäten und Leistungen werden aber kaum dokumentiert. Die Eltern greifen erst wieder zur Kamera, wenn sie spüren, wie schnell die Kindheit vergeht – also beim zweiten Kind.

Es gibt noch einen anderen Grund, warum von mir so wenige Spuren in der Welt zu finden sind. Meine ungeduldige Generation wollte sich nicht mit dem umständlichen Prozess des Filmeentwickelns abgeben. Wir wollten wissen, wie wir im Moment aussehen. In Großbritannien ließ man die Filme von der Drogerie nebenan entwickeln oder einem Fotogeschäft. Das dauerte drei Werktage. Und oft kannten die Besitzer unsere Eltern, es bot sich also nicht gerade an, denen Bilder von barbusigen Freundinnen oder von einem selbst mit Kippe anzuvertrauen. Deshalb machten wir Bilder mit der Polaroidkamera. Die umgab etwas Magisches – nicht nachvollziehbar für die heutigen Digitalkamerabesitzer und hektischen Handyfotografen: jene 60 Sekunden, in denen das Bild Form und Farbe annahm. Das war Alchemie.

Nun schließt Polaroid die meisten seiner Fabriken, ein Opfer der Digitalkamera, und diese Nachricht erfüllt mich mit Trauer. Ein weiteres Technikfragment meiner Vergangenheit, neben dem Telex und dem Telegramm, das ich einer ahnungslosen und uninteressierten Folgegeneration erklären muss. Vor kurzem fragte mich ein 14-Jähriger, wozu eine Telefonzelle gut ist; und es ist tatsächlich über ein Jahr her, dass ich jemand dabei beobachtet habe, wie er eine Telefonzelle benutzt.

Das Problem von Polaroidbildern besteht natürlich darin, dass die Chemikalien verschwinden, vor allem an Tageslicht. Die Bilder von mir in der Schublade sind längst verblasst, und da es keine Negative gibt, ist die Erinnerung verschwunden, eine Art technische Alzheimerkrankheit. Aber die Polaroidkamera lebt in einigen meiner Texte weiter. Es war eine klobig, hässliche Maschine, unbrauchbar im Krieg. Während Reporter geblendet werden von der Angst oder nur von der Geschwindigkeit der Ereignisse, kann ein Fotograf einen Moment festfrieren lassen; im Krieg ist eine Kamera dem Stift oft überlegen. Aber sobald die Welt ein wenig an Fahrt verliert, ist die Kamera ein nützliches Hilfsmittel für den Reporter, statt ein Ersatz zu sein. Ich habe einmal einen ganzen Polaroidfilm – das sind, zugegeben, nur 10 oder 15 Bilder – abgeknipst, um ein Zimmer in einem Haus in Osijek zu fotografieren, das im serbisch-kroatischen Krieg von einer Granate getroffen worden war. Für meine Zeitung waren sie ohne Nutzen, die Qualität war zu schlecht, aber auf ihnen sah man alles, was das Gehirn nicht aufnehmen konnte: der Fernseher, in der Mitte zersplittert, als ob ihn ein Fußball getroffen hätte; die Bilder, die an jenem Stück Wand hingen, das es noch gab; und in der Mitte, das einzige Opfer dieses Angriffs, ein kleiner, toter Hund. Ich hätte all die Beobachtungen aufzählen können – die Polaroid tat es besser. Später breitete ich die Bilder in meinem Hotelzimmer auf dem Bett aus und ließ sie mein Gehirn korrigieren.

Ein Reporter mit einer Polaroid war ein Spion. Ich erinnere mich an ein Interview mit dem Ökonomen Friedrich Hayek in Freiburg, ich verstand nur die Hälfte. Aber das Aufnahmegerät lief und ich dachte, es würde sich später schon irgendwie zusammenfügen. Leider übertönte der Straßenlärm Hayeks Schlüsselsätze. Das war aber kein Problem, denn als Hayek auf die Toilette ging, fotografierte ich, instinktiv, seinen Schreibtisch – Briefe, ein halbgeschriebener Essay, Notizen, Lehrbücher, Bilder und, entscheidend, eine Dankeskarte von Margaret Thatcher – und konnte so fast sein gesamtes Leben rekonstruieren.

Theoretisch kann man mit einem Handy heute das Gleiche machen. Die „Bild“ versucht, Reporterspione aus ihren Lesern zu machen, indem sie Geld für Handybilder von Promis im Alltag anbietet: Merkel beim Einkaufen, Dieter Bohlen am Strand. Aber eine Polaroid in den Händen eines richtigen Journalisten war effektiver, weil sie Details speicherte. Aus demselben Grund benutzten Polizisten Polaroids an Tatorten: Die Polaroid hat ein eigenes Auge. Nun ist sie verschwunden, und ich beginne erst, zu verstehen, wie sehr ich sie vermisse. Meine Welt wird ärmer sein ohne sie.

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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