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Meinung: MY BERLIN Nur mit Helm zu Butter Lindner

Vielleicht ist es das Alter, vielleicht Arroganz, aber ich rege mich immer häufiger über kleine Dinge auf. Donnerstagmorgen war es der Anblick eines Power-Bikers am Kopf einer Schlange bei Butter Lindner.

Vielleicht ist es das Alter, vielleicht Arroganz, aber ich rege mich immer häufiger über kleine Dinge auf. Donnerstagmorgen war es der Anblick eines Power-Bikers am Kopf einer Schlange bei Butter Lindner. Man kennt den Typ: Helm in pink-grün, orangefarbene Pearl-Izumi-Reißverschlussjacke, enge, glänzende Hose (ähnlich der, die meine Großmutter trug, wenn sie eine Blasenentzündung hatte) und rasierte Beine. Er sagt es nicht, aber man kapiert es auch so und kann es riechen, dass er gerade 50 Kilometer im Grunewald gefahren ist und sich nun auf den Weg ins Büro macht, wo er bis zum Mittag seine Fahrrad-Fascho-Uniform tragen wird.

Tatsächlich geht es bei Butter Lindner ja nicht um Männer mit Helmen, sondern um Robiola Bosina und feine Käse mit Trüffel. Lindner sollte am Eingang Visa verlangen.

Eigentlich macht es mir nichts aus, bei Lindner in der Schlange zu warten. „Es ist ein bisschen, als würde man an einem Skilift anstehen“, sagte die Frau vor mir, die in Nerz gekleidet war, falschen Nerz oder echten Nerz, der so tun sollte, als sei er falscher Nerz. Ich nehme an, sie meinte die feuchten, orangefarbenen Schweißflecken des Mannes. Der Charme des Ladens am Roseneck sind nicht die Kunden oder der Service (der einen Hauch von Swerdlowsk hat), sondern das Gefühl, dass er Teil einer verlorenen Welt ist, in der Lebensmittel noch interessant waren und Essen einkaufen eine Kunst.

Ein einziges Mal war ich in den frühen 60ern von Essen fasziniert, als wir für kurze Zeit in South Kensington lebten. Mein Vater arbeitete an irgendetwas (wahrscheinlich Bösem) im Verteidigungsministerium, meine Mutter war beschäftigt, und ich schlug nach der Schule meine Zeit tot, indem ich in einen Delikatessenladen ging. Es war ein Ort, an dem der Käse mit Draht geschnitten wurde; Frauen testeten den Reifegrad von Weichkäse, indem sie die Oberfläche eindrückten (die Franzosen sagen: tâter le fromage, sie haben immer einen gute Formulierung). Nebenan hängte der Metzger seine Hühner und Truthähne an einen Haken. Sogar ich war in der Lage, den Unterschied zu bemerken: Das Fleisch musste langsam gekaut werden und war voller Geschmack, nicht wie die blasse „So-weich-wie-Pasta“- Babynahrung, die heute verkauft wird. Dieser kleine Teil von London fühlte sich an, als sei Europa sehr nahe.

Nun ist Berlin fast zu solch einer Nahrungswüste wie London geworden. Um richtig abgehangenes Fleisch zu kaufen, muss man zu Bünger in der Westfälischen Straße gehen oder zu Opitz in der Uhlandstraße. Und zu Lindner wegen der frischen Butter. Aber der Genuss, den Lindner und andere Feinkostläden bieten, ist hauptsächlich ein voyeuristischer, die optische Illusion, man befinde sich in einem Laden auf dem Lande oder zumindest in einer anderen Zeit, als Land und Stadt noch näher beieinander lagen. Die EU-Regeln schreiben vor, dass Brie und Camembert, die nach Deutschland transportiert werden, mit einer Temperatur von 5 Grad oder darunter ankommen müssen. Wenn sie darüber liegen, wird der Käse zurückgegeben. Deshalb stellen die Lastwagenfahrer die Temperatur auf zwei Grad, um auf der sicheren Seite zu sein. Und töten damit den Käse. Wie nett der Laden auch sein mag, wie groß auch die Auswahl, das Essen kommt heute fast immer aus einer Fabrik oder einem Labor. Die kleine Tragödie unserer Zeit ist, dass selbst bei Lindner die männlichen Kunden stärker riechen als der Camembert.

Der Autor ist Korrespondent der britischen Tageszeitung „The Times“. Foto: privat

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