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Meinung: MY BERLIN Seminare auf vier Rädern

Was würde Peter Scholl-Latour ohne Taxis machen? Wirft man einen Blick in seine Bücher – voll gestopft mit souveränen, aber meist unzutreffenden Prognosen –, fragt man sich, ob er auf seinen Reisen mit jemandem spricht, der nicht Taxifahrer ist.

Was würde Peter Scholl-Latour ohne Taxis machen? Wirft man einen Blick in seine Bücher – voll gestopft mit souveränen, aber meist unzutreffenden Prognosen –, fragt man sich, ob er auf seinen Reisen mit jemandem spricht, der nicht Taxifahrer ist. Als ich den Namen einer berühmten britischen Kriegskorrespondentin googelte, stieß ich auf 102 Taxifahrerverweise (von Bosnien bis Afghanistan) – und alle sagten mehr oder weniger dasselbe. Vielleicht ist sie mit einem verheiratet.

Ich mag die Berliner Taxifahrer, weil sie gebildeter sind als ihre Kollegen in Europa. Ich wurde intelligent gefahren: von Theologie- und Medizinstudenten, von einem Architekten, Landschaftsgestalter und Musikkritiker (der als freier Mitarbeiter für diese Zeitung arbeitet). Die Verkehrsstaus auf der Stadtautobahn sind mein zweiter Bildungsweg. Vor ein paar Tagen, auf dem Weg in die Johannes-Sigismund-Straße, erhielt ich eine Unterweisung in das Leben des Kurfürsten von einem Fahrer mit abgeschlossenem Geschichtsstudium. Die Krise im Nahen Osten wurde mir von einem Iraner zwischen Tegel und Wilmersdorf erklärt und von einem Ägypter zwischen Schöneberg und Mitte. Beide wussten mehr als Scholl-Latour.

In der rollenden Uni herrscht jedoch ein Mangel an Wirtschaftswissenschaftlern. Ich glaube, ich weiß warum: Jeder mit einem Grundwissen des Marktes verlässt den Beruf. Wenn ein Taxifahrer (Buch auf dem Beifahrersitz: Gogol) sagt, dass er 75 Stunden pro Woche arbeiten muss, um auf 2000 Euro im Monat zu kommen, wenn er die Hälfte dieser Zeit bewegungslos am Stand verbringt, dann weiß man, dass etwas nicht stimmt. Früher waren Taxifahrer frei wie Cowboys, heute sind sie Sklaven. Die Fixkosten sind hoch, die Variablen unzählig, man kann Wartezeit nicht profitabel nutzen und es gibt eine physische Grenze, wie lange man arbeiten kann.

Es ist ein durch und durch ineffizientes Verfahren, sein Geld zu verdienen – und doch unerlässlich für die Stadt. Aber was kann Berlin, um Abhilfe zu schaffen? Die einfache Wahrheit lautet, dass es zu viele Taxis gibt: 6500 für eine Bevölkerung von 3,4 Millionen. Das ist ein Taxi pro 520 Berliner. In New York gibt es ein Taxi für 666 New Yorker. Trotzdem vergibt der Senat neue Lizenzen, im vergangenen Jahr 382.

Man könnte die Eingangsqualifikation erhöhen und so die Zahl der Fahrer senken. In London lernen die Bewerber zwei Jahre lang Straßen und absolvieren einen schwierigen Test. In Berlin dauert der 30 Minuten. Ein anderer Vorschlag kommt aus Zürich: Fahrer müssen einen Deutschtest bestehen. Das ist der falsche Weg. In einer Touristenstadt ist Englisch wichtiger als Deutsch.

Die einzige Antwort ist ein Vergabe-Stopp: Keine neuen Taxis für die nächsten sechs Jahre. Neue Unternehmer kaufen die Lizenz von solchen, die in Rente gehen. Eine New Yorker Lizenz kostet 230 000 Euro – genug als Alterssicherung. Das klingt korrupt, ist es aber nicht. Die Taxigemeinschaft wird so jünger und fitter, jeder Fahrer verdient anständig und das Angebot passt zur Nachfrage. Der Senat könnte das Leben der Fahrer mit einem Federstrich verbessern. Einzige Sorge: Wer liest dann noch Gogol in Berlin? Ich werde meine vierrädrigen Seminare vermissen.

Der Autor ist Korrespondent der britischen Tageszeitung „The Times“. Foto: privat

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