zum Hauptinhalt

My BERLIN: Taufhaus des Westens

Roger Boyes, The Times

Es gab einmal eine Zeit, da hielten sich die Berliner in der Ankunftshalle in Tegel an frisch gebundenen Blumensträußen für die Gäste fest. Lange her. Heute ist der Blumenladen zu. Stattdessen ist die Treppe runter ein „Love, Sex and Dreams“-Sexshop. Nun kann man seine Gäste mit blauen, batteriebetriebenen Dildos begrüßen. Das hat Charme. Bald stehen bulgarische Transvestiten vor dem LSD-Shop wie in der Kurfürstenstraße und bieten ihre Dienste an. Irgendwie ziehe ich Gartennelken vor.

Der Flughafen, sicher der praktischste in Europa (wo sonst können Sie direkt bis zum Gate vorfahren?), er gedeiht – und zeigt doch all die kleinen Merkmale des Niedergangs. Irgendwann bekommt man einen Blick für solche Vorboten – wie das Klirren der Gläser an der Bar vor einem Erdbeben. Sie sind die Essenz dieser Stadt. Wo immer Berlin scheinbar am reichsten ist, da erscheinen kleine Risse – und lassen erahnen, dass nicht alles gut ist. Wie der Rentokil-Schädlingsbekämpfer vor einem teuren Ku’damm-Restaurant. Oder die Duftmischung aus Urin und Lidl-Wein neben den Geldautomaten, die zeigen, dass ein Obdachloser noch einen blinden Fleck abseits der Sicherheitskameras für die Nacht gefunden hat.

Solange ich denken kann, heißt es, der Ku’damm sei im Niedergang. Als Student schien er mir als Ort, an dem die Huren patrouillierten. In den Neunzigern kam die Invasion der „Filialen“, der Tod des Café Möhring, die Vertreibung des echten Café Kranzler durch H&M.

Es war immer leicht, zu leicht, im Kurfürstendamm nur einen Beleg für den Niedergang des Westens zu sehen. Nicht nur, indem man ihn als Verlierer gegenüber der neuen Mitte darstellte, auch, in einem Spengler’schen Sinne, als zivilisatorischen Fehler, als Ort, an dem das Billige und Ordinäre die Qualität verdrängt – der Triumph von Starbucks.

Es hat einen Abend mit Helga Frisch gedauert, bis ich verstand, dass ich den Boulevard unterschätzt habe. 26 Jahre lang war Frau Frisch Pfarrerin der evangelischen Grunewaldgemeinde, und es gibt nur wenige, die West-Berlin so kennen wie sie.

In einem überfüllten Saal im Grunewald stellte sie dieser Tage ihr neues Buch über den Kurfürstendamm vor (Kahmann Verlag). Wussten Sie, dass der Ku’damm dort begann, wo heute die Budapester Straße ist – und deshalb die Hausnummern 1–10 fehlen? Dass die Gedächtniskirche früher „Taufhaus des Westens“ genannt wurde? Noch interessanter war für mich, dass der Ku’damm immer schon vulgär war – besonders in den Zwanzigern, als es am Halenseer Ende einen großen Lunapark gab: Hier waren die ersten Miss- Wahlen (zur „Sommerkönigin“), der echte, langhaarige Buffalo Bill trat in einer Wildwest- Show auf, und Hagenbeck zeigte eine „Sudanesen- und Raubtierschau“.

Die größte Schwimmhalle Europas war hier, mit ausfahrbarem Glasdach und Wellenmaschine. Abends tranken Männer Kaffee am Beckenrand und schauten auf leichte Mädchen im Wasser. Daher der Name Nuttenaquarium.

Vulgär und elegant, arm und reich – auf dieser Straße kam schon immer beides zusammen. Sie ist die Wiege des Mäzenatentums in der Stadt. Die Reichen machten aus ihren Häusern nicht nur kleine Paläste. Im Romanischen Café trafen sie Poeten und Künstler – und sponserten sie und ihre Trinkgewohnheiten.

Heute ist das ähnlich. Viele Häuser sind restauriert, Projekte, die sich mit der Geschichte der Stadt beschäftigten, werden unterstützt. Der Ku’damm, der alte Knüppeldamm, erfindet sich immer wieder neu. Eine bemerkenswerte Straße, hässlicher, aber viel interessanter als die Champs d’Elysees.

Erfrischt durch Frau Frisch, fing ich an, mich mit den Nachbarn zu unterhalten – und tatsächlich, jeder schien seinen eigenen Ku’damm zu haben. Einer erinnerte sich an die Schüsse auf Rudi Dutschke am Ku’damm 140. Eine andere erinnerte daran, dass ihre Mutter auf der Wilmersdorfer Straße gekidnappt worden war. Noch ein anderer erinnerte an einen „BZ“-Verkäufer in den fünfziger Jahren, der über den Ku’damm lief und schrie: „Ost-Berlin zusammengebrochen! Russen auf der Flucht!”, auch wenn die echten Nachrichten weniger dramatisch waren (die meisten Zeitungen kauften ihm Westler ab, die am Bahnhof Zoo ankamen).

Wir sollten die einzelnen Geschichten über den Ku’damm erhalten, bevor sie verschwinden. Könnte sich nicht ein Team junger Studenten mit Tonbandgeräten bewaffnen und solch lebendige Erinnerungen zusammenstellen? Könnte der Senat – der von einem Mann geführt wird, der seinen Kindheitstraum wahrgemacht hat und in ein Ku’damm-Apartment gezogen ist – das nicht finanzieren? Oder brauchen wir dafür einen wohlhabenden Mäzen?

Aus dem Englischen übersetzt von Sebastian Bickerich.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false