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My BERLIN: Was weiß der Dalai Lama schon vom guten Leben?

Ich mag Hass-Post. Soll sie doch kommen. Es gibt nichts, das für einen Journalisten ermutigender ist als eine E-Mail, die einen zur Hölle wünscht oder feststellt, dass ich längst dort bin, als williger Diener des Internationalen Großkapitals. Doch diese Post ist ungewöhnlich.

Diesmal zögerte ich einen Moment, bevor ich den Protest der blauen Tonne übergab. Er kam von einem verärgerten Buddhisten – das allein ist so paradox wie ein, sagen wir, fröhlicher Neuköllner. „Sehr geehrter Herr Boyes“, begann das Schreiben, „Sie sind so unhöflich gegenüber dem Dalai Lama, dass sie aufhören sollten, über ihn zu schreiben“. Anscheinend war ich ihm gegenüber grob gewesen, obwohl ich glaube nur geschrieben hatte, dass sich die Regierung feige gegenüber dem geistigen Führer Tibets benommen hat.

„Das Problem ist“, schloss die Beschwerde (die Schlüsselwörter waren mit rosa Markierstift hervorgehoben, vielen Dank dafür, Herr X!), dass Journalisten wie ich „unfähig sind, zwischen äußerlichem und inneren Glück zu unterscheiden und deshalb ihr eigenes Leben, ganz zu schweigen von dem Ihrer Leser, nicht ändern können“. Nun neigen Journalisten wie ich dazu, Leuten zu misstrauen, die rosa Markierstifte verwenden. Aber, Herr X, ich weiß schon, dass ich ein gutes Leben führen sollte; den Porsche aufgeben und Suppe an Bedürftige ausgeben. Ich weiß das, seit ich selbst ein Kind war – lange bevor der Dalai Lama auf CNN auftauchte.

Thomas von Aquin spricht von der Notwendigkeit, ein gutes Leben zu leben. Wie kann das gehen in einer Zeit, in der vier Megakrisen – Klimakatastrophe, Nahrungsmittelknappheit, Zusammenbruch der Finanzmärkte, hoher Ölpreis – die Prioritäten durcheinanderbringen? Bis vor Kurzem hieß gutes Leben, sich um Freunde und Familie zu kümmern, sich von der Polizei fernzuhalten und ins Fitnessstudio zu gehen; die komprimierte 90er-Jahre- Version der Zehn Gebote. Geh joggen und versuch, deine Frau nicht zu schlagen.

Von so einem Niveau scheint der Dalai Lama abgeschreckt zu sein; kein Wunder, dass 90er- Jahre-Typen wie Richard Gere und Roland Koch zu seinen größten Fans gehören. Der große Mann sagt über das Glück: „Es ist notwendig (um glücklich zu sein), anderen zu helfen. Wenn wir finden, dass wir anderen nicht helfen können, dann müssen wir davon absehen, ihnen zu schaden". Hm. Wenn Sie dieser Weisheit folgen wollen, können sie genauso gut den ganzen Tag im Bett bleiben.

Wie kann man also versuchen, in einer globalisierten Welt ein gutes Leben zu leben, wo so viele Informationen moralische Entscheidungen fast unmöglich machen? An den Schulen gibt es ein Durcheinander über den Ethikunterricht. Letzte Woche hörten wir von Siemens-Korruption und Ärger bei der Telekom. Überleben scheint immer mehr vom Ignorieren elementarer Grundsätze abzuhängen.

Alleingelassen, wie wir uns fühlen, müssen wir unserem eigenen Urteil vertrauen. Was ist mit dem Thunfisch, den ich beim Japaner esse? Wurde er mit Netzen gefangen, die Delfine töten und die Art gefährden? Ich hab die Kellnerin im Kuchi gefragt – natürlich wusste sie es nicht. Im Internet- Zeitalter weiß man genug, um sich schuldig zu fühlen, doch nicht genug, um eine moralische Entscheidung zu fällen.

Wie sieht es mit meinem Handy aus, das letzte Woche den Geist aufgab? Die gewaltige Zahl toter Handys belastet die Umwelt. Aber haben Sie mal versucht, in Berlin ein kaputtes Handy wieder flottzumachen? Das endet meist darin, dass ein Mann mit slawischem Akzent Ihnen laut ins Gesicht lacht. Kaufen Sie ein neues Telefon, stehen sie vor dem nächsten Dilemma: Handys brauchen Coltan, das meiste davon kommt aus Kongo, die Kriegsherren profitieren vom Abbau des Minerals.

Was soll der gute Mensch also tun? Sich in die vormoderne Existenz zurückziehen, ohne Kopfhörer und Sushi-Bars? In eine Welt, in der Massenarbeitslosigkeit aus Umweltschutz- und moralischen Gesichtspunkten hohen Wachstumsraten vorgezogen werden, die von korrupten Firmen Made in Germany erzielt werden? Moralisch zu leben, wie ich es verstehe, heißt Grenzen erkennen – auch die Tatsache, dass es globale Ungerechtigkeit gibt – und zu lernen, dass die Möglichkeiten beschränkt sind, das zu ändern. Das bedeutet aber noch lange nicht, einfach das Gehirn auszuschalten, wie es der Rat des Dalai Lama zu sein scheint. Ein Lächeln im Gesicht ist noch lange keine Lebensphilosophie, Berliner haben das schon vor langer Zeit entdeckt.

Eine Psychologin hat mir mal gesagt, dass der glücklichste Mann, den sie jemals getroffen hatte, ein Gefangener in Moabit war. Wie bei vielen anderen auch, bedeutete Glück für ihn die Abwesenheit jeder Wahl. Eines Tages wurden die Mahlzeiten im Gefängnis ergänzt. Der Mann erlitt einen Nervenzusammenbruch, gelähmt von all den neuen Wahlmöglichkeiten. Hat dieser Mann, frage ich mich, einen rosa Markierstift?

Aus dem Englischen übersetzt von Sebastian Bickerich.

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