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My BERLIN: Wie Vera meinen Tagesablauf veränderte

Vera Dörrier-Breitwieser ist eine eindrucksvolle Frau mit einem Gedächtnis, das so gut ist, dass sie jeder Nostalgie für das Neue Deutschland entgegentreten kann. Ihre Geschichte ist Berlin in Aspik. Wer sie vergisst, oder Leute wie sie, verstellt den moralischen Kompass der Stadt.

Haben Sie die Athletin gesehen, eine Stabhochspringerin, glaube ich, die sich in die Mitte des Olympiastadions legte, Handtuch überm Gesicht, Füße hoch – und einschlief? Ich bewundere ihre Fähigkeit, abschalten zu können. Mein Thema heute, ich sag es gleich, ist Selbstdisziplin. Ich war niemals auf einer Journalistenschule, aber wenn, dann hätte der Dozent sicher gesagt: Sag am Anfang, was das Thema ist, und behalt es dann fest im Auge.

Und das genau ist mein Problem. Der Abgabetermin für mein Buch rückt näher, ich habe von der „Times“ einige Zeit freigenommen und sollte jeden Tag eine festgelegte Anzahl von Seiten schreiben. Stattdessen wache ich früh auf, gehe Gassi, trinke beim Bäcker Kaffee, lese die Zeitungen, und dann beginnt auch schon die Leichtathletik-WM. Mit den Athleten mache ich mich warm: Ich trainiere meinen rechten Zeigefinger beim Nasebohren, jogge in die Küche, um Tee zu machen, strecke mich, grunze zustimmend, wenn eine Kugelstoßerin ihr Eisen loslässt. Erst am Abend bin ich so weit, um mit dem Schreiben anzufangen, erst dann habe ich genug Kohlehydrate im Körper. Ein Sprint, und schon ist eine Seite geschrieben, dann eine Ruhephase gefolgt von einer halben Seite. Erschöpfung. Vermutlich gibt es keine unproduktivere Art zu schreiben, aber die schlichte Druckwelle von Unschlüssigkeit und schlechtem Gewissen, einen Tag verschlampt zu haben (an dem andere 400 Meter in Rekordzeit gerannt sind, oder ins Büro gegangen sind und Entscheidungen getroffen haben, oder ein Baby gefüttert und erzogen haben), treibt mich aus dem Haus.

Es gibt unendlich viele Bars in Berlin für Spätausgeher, ich meine nicht die furchtbaren Bunker der Clubber oder die überteuerten „Lounges“, sondern Kneipen wie das „Imma uff“ oder „Rudis“, wo Schichtarbeiter ihr überschüssiges Adrenalin loswerden: Journalisten, ein Notarzt nach einer blutigen Nacht, ein Polizist auf dem Nachhauseweg. Erstaunlich wenig Betrunkene, keine Alkoholiker mit Plastiktüten voller Flaschen. Da alle dort den Kopf freikriegen wollen nach einem langen Tag, sind die Gespräche von kurzer Dauer. Streit kocht hoch, flaut wieder ab. Vor einigen Tagen begann ein Journalist einen leidenschaftlichen Klagegesang auf das „Neue Deutschland“, das pleite gehen könnte. Wenn es eine Zeitung verdient hätte, einzugehen, dann sicher das „ND“, das alte Zentralorgan der SED. Es hat sich seit den schlechten alten Tagen neu erfunden, aber nicht dramatisch; die Zeitung hat eine Geschichte kalkulierter Täuschungen. Aber ich war zu müde, um ihm die offensichtlichen Gegenargumente entgegenzuschleudern, und ging.

Am nächsten Tag traf ich Vera Dörrier-Breitwieser und wünschte plötzlich, ich wäre dem Kampf nicht aus dem Weg gegangen. Sie ist eine eindrucksvolle Frau mit einem Gedächtnis, das so gut ist, dass sie jeder Nostalgie für ein Blatt, das einst ein verottetes Regime verteidigt hat, entgegentreten kann. Ihre Geschichte ist Berlin in Aspik. Wer sie vergisst, oder Leute wie sie, verstellt den moralischen Kompass der Stadt. Als die Mauer hochging, war sie 28, lebte mit ihren Eltern in Pankow und war dabei, Lehrerin zu werden. Ihr Vater war Bibliothekar, Kandidat der SED, ein Gläubiger. Ihre Mutter war eine Skeptikerin. Was Vera am Leben erhielt, waren ihre Wochenendtrips zum Wannsee zu einer christlich-jüdischen Diskussionsgruppe. Die Mauer beendete das, und sie schrieb an das Institut, um ihr Bedauern auszudrücken. Das wiederum setzte die Fluchthelfer der FU in Gang. Ein Bild von Vera wurde in die Schweiz geschickt, der Pass einer ihr ähnlich sehenden Frau kam zurück. Und Vera begann, sich neu zu erfinden, mit der Selbstdisziplin einer Athletin. Sie lernte alles auswendig, sogar die Flüsse und Dörfer in der Nähe ihres vermeintlichen Schweizer Geburtsorts. Im Dezember 1961 kam sie am Bahnhof Friedrichstraße raus; die nächste „Schweizerin“ wurde entdeckt und landete in Hohenschönhausen.

Der kurze Weg von Ost nach West war vermutlich der schönste Moment in Veras Leben: ein Triumph von Disziplin, Teamwork und Nervenstärke. Nicht alles ging glatt im Westen, aber sie fand Zufriedenheit in ihrem Beruf als Bibliothekarin am Otto-Suhr-Institut. Ihre Lebensgeschichte, bei Kaffee und ohne Pathos berichtet, zeigte mir wieder einmal, dass Berliner das große Talent zur Flucht haben. Aber auch das: Wenn jemand etwas wirklich will, kann auch der, von dem man es nie erwarten würde, die notwendigen psychologischen Muskeln und Selbstdisziplin entwickeln. Hier mein Fortschrittsbericht: Seit meinem Treffen mit Vera schreibe ich am Morgen. Nicht viel, ich lass mich noch immer leicht ablenken. Aber die Seiten füllen sich, eine nach der anderen.

Aus dem Englischen übersetzt von Moritz Schuller.

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