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Cooler Typ. Tim Renner verstand es schon immer, sich in Szene zu setzen.

© Imago

Nach der Berufung von Tim Renner: Unbequeme Fragen an Berlins Bildungsbürger

Berlins neuer Kulturstaatssekretär Tim Renner könnte ein paar unbequeme Fragen stellen. Zum Beispiel: Was tun die drei Opernhäuser, die Berlin sich leistet, während Kiezbibliotheken geschlossen werden, für die Menschen in der Stadt?

Könnte man sich eine solche Szene vorstellen? Dass der neue Kulturstaatssekretär eines Bundeslandes vorgestellt wird und sich umgehend dazu äußern muss, wann er zum letzten Mal in der Disco gewesen sei. Und dass alle kichern, wenn er sagt: Äh, vor einem halben Jahr, aber nur, weil dort ein Bratschenquartett aufgetreten sei.

Vorstellbar? Wohl kaum. Ganz normal, ja fast notwendig wirkte es dagegen, als der Vertreter der Musikszene Tim Renner, der in Berlin neuer Kulturstaatssekretär werden soll, bei der Pressekonferenz zur seiner Personalie nach seinem letzten Opernbesuch gefragt wurde. Er sagte, vor einem halben Jahr, aber nur, weil da eine Party war. Und weil das natürlich total kulturlos war, und das in diesem Amt!, kicherten alle, hihi.

Kultur ist vor allem Hochkultur, ist alt und würdig, lang und ernst, teuer und schwer, ist Oper und Museum, ist Klassik. Ist keinesfalls Zappeln zu Kurzliedern, ist nicht Rumkreischen und Luftgitarre, ist nicht Pop. So hängen die gängigen Assoziationsketten.

Sie hängen schon sehr lange so, auch um den Preis, dass die Frage, wie man es mit der Kultur hält, zur Distinktion wurde. Sie grenzt den Bildungsbürger ab von den anderen. Das ist falsch – besonders, da sich die jährlichen millionenschweren Hochkulturalimente aus den Steuerabgaben aller Berliner speisen. Wenn einer wie Tim Renner helfen könnte, an dem alten Dünkeldenken etwas zu ändern, wäre er eine gute Besetzung. Wenn er die Frage: „Ich war nicht in der Oper, was stimmt mit mir nicht?“ um das: „Was stimmt mit ihr nicht?“ ergänzt.

Berlin bildet sich etwas ein auf seine Kreativen

Berlin bildet sich so viel wie keine andere Stadt in Deutschland auf seine vielen Kreativen und seine freie Kunstszene ein, die die Stadt interessant und lebendig machen. Techno wurde in Berlin groß, bunte Paraden erfunden, halbe Straßenzüge in Berlin beherbergen kleine Galerien. Das sind dem Selbstverständnis nach alles staatsferne Kulturbewegungen, und die bestimmen das Bild des neuen, modernen Berlin in der Welt. Passt das langfristig noch mit einem Kulturbegriff zusammen, der auf bildungsbürgerliche Vorstellungen setzt? Und zu einer Kulturpolitik, die diese mit ihrer in Stein gemeißelten Institutionenförderung exekutiert?

Wie ein weiter gefasster Kulturbegriff in politischen Formulierungen aussieht, lässt sich in den „Zehn Thesen für eine aktivierende Kulturpolitik“ nachlesen, die der Pianist, Kulturmanager und SPD-Schattenminister für Kultur von 2013, Oliver Scheytt – unter Mitwirkung auch von Tim Renner –, im Bundestagwahlkampf entwickelt hat. Unter der Ansage „Kreativität ist der Rohstoff des 21. Jahrhunderts“ steht in These 6: „Das Leitbild des ,Bildungsbürgers’ ist überholt. Wir sollten jeden Menschen als ,Kulturbürger’ verstehen, der durch Kunst und Kultur geprägt ist.“

Vielleicht kann Tim Renner in seinem neuen Amt ein paar Ideen an den richtigen Stellen loswerden, ein paar Denkanstöße geben, die neu sind, Fragen stellen. Warum bekommen automatisch die Großen viel und die Kleinen wenig? Was tun die drei Opernhäuser, die Berlin sich leistet, während Kiezbibliotheken geschlossen werden, für die Menschen in der Stadt? Stoßen sie Debatten an, die über ihre Inszenierungen hinausgehen? Öffnen sie Horizonte? Riskieren sie etwas? Die vergangenen Debatten darüber, was Kunst darf, entzündeten sich an Zeitungskarikaturen, an gewaltpredigenden Hip-Hop-Texten oder sexistischen Rappervideos. Alles Formate des freien Marktes. Sind also die Opernbühnen das viele Subventionsgeld wert? Oder findet dort zuerst Unterhaltung für nur eine Klientel statt?

Vor Renner liegt eine Wiese, die sich risikolos bespielen lässt

Tim Renner hat im neuen Amt im Grunde keinen Einfluss – über ihm thront als Kultursenator der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit –, die Hälfte der Legislatur ist ohnehin rum, das Geld ist verteilt und zugesagt. Vor Renner liegt eine Wiese, die er risikolos bespielen kann. Und zumindest eines ist mit seiner Nominierung ja erreicht: Es wird über Kultur und Kulturpolitik wieder inhaltlich diskutiert. Hoffentlich nutzt Renner diesen Schwung und wird nicht als schlipsloser, irgendwie witziger, aber auch überflüssiger Kukident-Popper eingemeindet in die Strukturen des Establishments. Motto: Ist Renner erst Beamter, hat sich Pop erledigt.

Die Frage, die bei seiner Vorstellung an ihn ging, könnte er ja mal quer durch Berlin stellen: Wann waren Sie zum letzten Mal in der Oper, Frau Kasupke? Wann Sie, Herr Otto Normal? Vermutlich noch nie. Sie waren nicht mal eingeladen zur Party, die Renner selbst in die Oper lockte.

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