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Nachbetrachtung zum 1. Mai: Thierse bleibt sitzen

Die Ausdrucks- und Einwirkungsmöglichkeiten eines Parlamentsvizepräsidenten sind wahnsinnig begrenzt. Da muss man als Parlamentarier schon zu anderen Formen des Protests greife. Eine kleine Nachbetrachtung zum 1. Mai.

Adorno hatte recht: Die Welt ist schlecht. Deswegen ist in der Politik nichts wichtiger als Widerstand. Hindern, widerstehen, den Anfängen wehren, sich nichts bieten lassen, es mit sich nicht machen lassen. Dies und das ist mit uns nicht zu machen, sagt jeder Politiker voller Widerstandsstolz. Der widerstandserfahrene Wolfgang Thierse etwa legt sich jedem Neonazi in den Weg, notfalls auf offener Straße. Denn sonst hat er keine Möglichkeiten, seine Meinung kundzutun.

Die Ausdrucks- und Einwirkungsmöglichkeiten eines Parlamentsvizepräsidenten sind ja wahnsinnig begrenzt. Kaum jemand hört auf ihn, die Medien sind ihm verschlossen, er kann nicht mal die NPD verbieten, obwohl er deren Verbot seit langem fordert. Da muss man als Parlamentarier schon zu anderen Formen des Protests greifen – wie etwa jenen typisch außerparlamentarischen des Sit-ins. Ein Parlamentarier, der sich vor Polizisten auf die Straße setzt, bis die ihn dann wegtragen, demonstriert also zunächst einmal gegen sich selbst, gegen den Parlamentarismus, dem er die notwendige gesellschaftsverändernde Kraft offenbar nicht zutraut.

Außerdem macht er sich strafbar, wie der gemütliche Berliner Innensenator Ehrhart Körting seinem sitzenden Parteifreund Thierse in aller Freundschaft zurief. Die Gewerkschaft der Polizei nannte es gar „unerträglich, wenn Vertreter von Verfassungsorganen aus billigem Populismus gegen Recht und Gesetz verstoßen“. Ach, wirklich? Kaufen nicht staatliche Repräsentanten aus billigem Populismus CDs mit gestohlenen Bankdaten, betreiben sie nicht aus billigem Populismus eine verfassungswidrige Haushaltspolitik? Da braucht man bei einem Politiker, der sich mal auf die Straße hockt, auch nicht so etepetete zu sein.

Bei denen, die sich über Thierses Rechtsbruch ereifern, ist natürlich auch viel Heuchelei im Spiel. Es gibt ja nicht den Rechtsbruch als solchen, sondern es kommt auf Art und Schwere an. Ein Bundestagsvizepräsident, der sich widerstandslos von der Polizei wegtragen lässt, begeht gewiss einen Rechtsverstoß, aber einen kleinen und beinahe heiteren. Denn auf der Symbolebene zeigt er, dass er die Staatsgewalt nicht völlig ernst nimmt. Das ist für einen der obersten Träger jener Staatsgewalt zwar ein bisschen heikel, aber er wird schon wissen, was er tut. Vermutlich ist das ganze politische Gedöns so wirkungslos, dass sogar Regierungsmitglieder ab und zu auf eigene Faust zur Tat schreiten. Bald wird Angela Merkel dabei ertappt werden, wie sie des Nachts mit schwarzer Farbe Parolen auf Berliner Häuserwände sprüht.

Der Autor ist Publizist und Mitherausgeber des Internetportals „Die Achse des Guten“.

Burkhard Müller-Ullrich

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