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Meinungsfreiheit von Neonazis: Nachholender Antifaschismus

Das Verfassungsgericht schränkt die Meinungsfreiheit von Neonazis ein. Unser Gastautor Horst Meier kritisiert, dass das mit fragwürdigen Argumenten geschieht.

Dass in der deutschen Politik ein autoritäres Grundmuster der Exklusion nachwirkt, zeigt sich bis in die fortschrittliche Variante dieser Ausgrenzungsbereitschaft. Am Konflikt um den Rudolf-Heß-Gedenkmarsch lässt sich das besichtigen. Heß war für Wunsiedel, wo er bis vor kurzem begraben lag, eine Art Untoter, ein Wiedergänger geworden. Alljährlich versammelten sich hier Rechtsradikale, um dem „Stellvertreter des Führers“ zu huldigen. Bis dann 2005 der Volksverhetzungsparagraph abermals verschärft wurde und seitdem nicht nur bestraft werden kann, wer den Holocaust leugnet, sondern obendrein, wer die „nationalsozialistische Gewalt- und Willkürherrschaft billigt, verherrlicht oder rechtfertigt“ (Paragraph 130 Abs. 4 Strafgesetzbuch). Auf dieser Grundlage wurde nun Jahr für Jahr der Gedenkmarsch untersagt, denn nach dem Versammlungsgesetz können Demonstrationen verboten werden, auf denen die Begehung von Straftaten (hier: von Propagandadelikten) zu erwarten ist.

Die höchstrichterliche Entscheidung, die im November 2009 fiel, ließ die Stadtväter von Wunsiedel aufatmen, denn das Bundesverfassungsgericht erklärte den neuen Volksverhetzungsparagraphen für grundgesetzkonform. Doch die gute Nachricht, die nicht allein im Fichtelgebirge, sondern bundesweit für Erleichterung sorgte, ist keine. Denn die ausdrückliche Rechtfertigung von Sonderrecht gegen rechtsradikale Ansichten ist der Sündenfall schlechthin, ist ein Bruch mit dem herkömmlichen Verständnis der Meinungsfreiheit; ja sie wendet sich gegen das Prinzip selbst. Wie konnte es so weit kommen?

Die selbstverschuldete Festlegung auf ein politisch korrektes Ergebnis ist aller Juristenlaster Anfang; je zwingender die politische Vorgabe wirkt, desto verkrampfter fallen die juristischen Klimmzüge aus. Die Begründung der Wunsiedel-Entscheidung ist sehr bemüht und verschachtelt, sie oszilliert zwischen Rücknahme und Pathos der Meinungsfreiheit. Ihre Kernaussagen lassen sich so zusammenfassen: Nach dem Wortlaut des Grundgesetzes darf die Meinungsfreiheit durch „allgemeine Gesetze“ eingeschränkt werden; allgemein gehalten sind Gesetze, die nicht an eine missliebige Ansicht als solche anknüpfen, sondern meinungsneutral wirken.

Lesen Sie auf Seite 2, warum der Volksverhetzungsparagraph kein allgemeingültiges Gesetz ist.

Schulbeispiel: Die Bestrafung der Urheber von Wandparolen schützt das Privateigentum und stellt auf die Sachbeschädigung, nicht auf den Inhalt der Parolen ab – ist also meinungsneutral und unterdrückt keine bestimmte politische Richtung. Nun soll die Verschärfung des Volksverhetzungsparagraphen zwar einem allgemein formulierten „öffentlichen Frieden“ dienen. Dieser wird aber erklärtermaßen vor Störungen durch den Heß-Gedenkmarsch und andere rechtsradikale Agitation geschützt. Also nicht vor totalitären Ideologien wie Kommunismus und Nationalsozialismus gleichermaßen, sondern allein vor Meinungen, die mit dem NS-Regime sympathisieren. Deshalb ist dieser Strafparagraph kein allgemeines Gesetz.

Mit dieser Einstufung wäre normalerweise das Urteil „verfassungswidrig“ unausweichlich: Bereits 1932 hatte Kurt Häntzschel im Handbuch des deutschen Staatsrechts dargelegt, dass jede gesetzliche Einschränkung einer bestimmten politischen Richtung, das heißt jegliches Sonderrecht, als verfassungswidriger Eingriff anzusehen ist. Das soll jetzt anders werden. Denn die Verfassungsrichter machen überraschenderweise eine historisch hergeleitete Ausnahme. Der neue Volksverhetzungsparagraph sei „auch als nichtallgemeines Gesetz“ mit der Meinungsfreiheit nach Artikel 5 vereinbar: Angesichts einer Bundesrepublik, die als „Gegenentwurf“ zum NS-Staat zu verstehen sei, ist dem Artikel 5, behaupten die Richter, „eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze immanent“.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Das historische Urteil, das Grundgesetz für die Bundesrepublik von 1949 sei in vielem als Gegenentwurf zur Schreckensherrschaft des Naziregimes zu verstehen, ist durchaus treffend. Nicht aber die daraus gezogene Schlussfolgerung: dass der Meinungsfreiheit neuerdings ein antinazistischer Vorbehalt „immanent“ ist, der Sonderrecht gegen die „propagandistische Gutheißung“ des NS-Regimes zulässt – diese Folgerung bleibt reine Behauptung. Denn die stolze Entdeckung, für die das Gericht sechs Jahrzehnte brauchte, findet in der Entstehungsgeschichte keinen Anhaltspunkt.

So beteuern denn auch die Verfassungsrichter, das Grundgesetz kenne „kein allgemeines antinationalsozialistisches Grundprinzip“. Selbst gegenüber den „Feinden der Freiheit“ setze es „auf die Kraft der freien öffentlichen Auseinandersetzung“. Und sie räumen ein, der Parlamentarische Rat habe sich hierzu „auch gegenüber dem soeben erst überwundenen Nationalsozialismus“ bekannt. Warum dann aber ausgerechnet der Meinungsfreiheit, dem Zentrum der Kommunikationsgrundrechte, eine Art Ausnahmerecht untergeschoben wird, bleibt unklar.

Lesen Sie auf Seite 3, welche falschen Schlüsse aus der vermeintlichen Singularität der Naziverbrechen gezogen werden.

„Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter“, sagt Goethe. Jede seriöse Interpretation findet ihre Grenze am Wortlaut der Norm, besagt eine Regel der juristischen Methodenlehre. „Contra legem“ zu urteilen wird zwar für möglich gehalten, doch nur in erklärten Ausnahmefällen. Zwingende Gründe dafür trägt das Gericht aber nicht vor. Seine These von der neuen immanenten Schranke steht am Ende einer Interpretation, die den Wortlaut von Artikel 5 überspielt. Das weit in die Entstehungsgeschichte ausholende Argument, das sich in einer Gesamtbetrachtung über Sinn und Zweck, über Wesen und Identität der Verfassung ergeht, überzeugt nicht.

Mehrfach klingt in der Entscheidung an zentraler Stelle die These von der Singularität der Naziverbrechen an. Das Verbot von meinungsbeschränkendem Sonderrecht „kann für diese … einzigartige Konstellation“, behaupten die Verfassungsrichter, „keine Geltung beanspruchen“. So oder ähnlich lautet der moralisch hochgerüstete Topos, das Leitmotiv, gleichsam der eine tragende Grund der Entscheidung – der aber genau besehen als Grund nicht trägt. Man mag die im Historikerstreit hin und her gewendete These von der Singularität der Naziverbrechen vertreten. Doch sie rechtfertigt keineswegs den daraus abgeleiteten juristischen Schluss, Konflikte um rechtsradikale Propaganda seien mit den herkömmlichen Regeln der Meinungsfreiheit nicht zu erfassen.

Die „gegenbildlich identitätsprägende Bedeutung“ des NS-Regimes könne „allein auf der Grundlage allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen nicht eingefangen“ werden, lautet eine merkwürdige Formulierung. Soll das heißen, das singuläre NS-Verbrechen gebietet die Anwendung singulärer übergesetzlicher Maßstäbe gegen seine nachgeborenen Sympathisanten? Man beginnt zu ahnen, wie heillos sich Vergangenheitsbewältigung und juristisches Handwerk verwirren.

Die „streitbare Demokratie“ des Grundgesetzes ist antiextremistisch, nicht aber exklusiv gegen Neonazis ausgerichtet. Noch in den siebziger Jahren wurde die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ mit Inbrunst für Berufsverbote gegen linksradikale Lehramtsbewerber und kommunistische Briefträger ideologisch scharf gemacht. Wer heute die Agitation von Neonazis nicht länger ertragen will, muss gegen exponierte Einzelpersonen ein Verwirkungsverfahren nach Artikel 18 vor dem Verfassungsgericht anstrengen – wegen „Missbrauchs“ der Meinungsfreiheit. Die Hürden dafür liegen, ebenso wie beim Parteiverbot, hoch. Doch das unterstreicht nur den Ausnahmecharakter einer solchen Freiheitsentwertung.

Die Meinungsfreiheit ist für die Demokratie „schlechthin konstituierend“, urteilte das Verfassungsgericht in einer Leitentscheidung aus dem Jahr 1958: „Denn (sie) ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist.“ Das ernst zu nehmen, davon ist die Wunsiedel-Entscheidung ziemlich weit entfernt: statt Offenheit die politisch korrekte Bevormundung der Debatte, statt Schutz „unerträglicher“ Meinungen deren Bestrafung. Wie weit es mit der „Streitkultur“ her ist, wenn etwas wirklich Provozierendes zu ertragen wäre, darüber geben zahlreiche Formulierungen beredt Auskunft.

Die „Gutheißung“ der Naziherrschaft, heißt es da, entfaltet besondere Wirkungen, die „über die allgemeinen Spannungslagen des öffentlichen Meinungskampfes weit hinausgehen“. Und kurz darauf: „Die Befürwortung dieser Herrschaft ist in Deutschland ein Angriff auf die Identität des Gemeinwesens nach innen mit friedensbedrohendem Potential.“ Sie ist insofern „mit anderen Meinungsäußerungen nicht vergleichbar und kann nicht zuletzt auch im Ausland tiefgreifende Beunruhigung auslösen“.

Lesen Sie auf Seite 4, wie Neonazis zu Grundrechtssubjekten zweiter Klasse abgestempelt werden.

Verbale Attacken auf die Identität der heutigen Mehrheitsdeutschen und tiefgreifende Beunruhigung im Ausland – sind das die neuen Schlagworte für die Unterdrückung provozierender Meinungsäußerungen? Es ist ja gerade die spezifische Funktion des Grundrechts, Minderheiten zu schützen, die etablierte Wahrheiten respektlos infrage stellen, mithin aus Sicht der Mehrheit empfindlich stören. Hier aber werden entgegen allen Beteuerungen Meinungen nur wegen ihres abstrakt-gefährlichen Inhalts verfolgt. Das nimmt das Prinzip der freien geistigen Auseinandersetzung zurück. Es trifft die bürgerlich-liberale Verfassungstradition im Kern.

Die Apologie des Sonderrechts stempelt Neonazis zu Grundrechtssubjekten zweiter Klasse ab. Heute, sechsundsechzig Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft, das von den Alliierten erzwungen wurde, steht der symbolisch-nachholende Antifaschismus der Deutschen, höchstrichterlich anerkannt, im Zenit. Wer das begrüßt, sollte nicht übersehen, dass damit schwere Kollateralschäden für die Bürgerrechte einhergehen.

Es ist etwas faul an einem „öffentlichen Frieden“, der gestört ist, nur weil einige tausend Neonazis eine friedliche Kundgebung abhalten unter dem Motto „Gedenken an Rudolf Heß“. Die heutige Volksverhetzung nach Paragraph 130, die im Kaiserreich ursprünglich der „Anreizung zum Klassenkampf“ galt, ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt: Es bestraft nicht eine wirkliche, sondern schon eine potenzielle Störung des öffentlichen Friedens. So sprachen sich denn die ehemaligen Verfassungsrichter Wolfgang Hoffmann-Riem und Winfried Hassemer dafür aus, die Verhetzungsvariante der Holocaustleugnung zu streichen.

Die Verfassung bietet ein Forum, auf dem alle über alles diskutieren können. Ohne Ausnahme. Permanent. Der Staat darf die Ächtung des NS-Regimes nicht als amtliche Wahrheit verordnen und Widerspruch dagegen bestrafen. Aber gilt das auch nach dem Äußersten, gilt das selbst für ein Verfassungsdenken nach Auschwitz? Der Historiker Dan Diner, der 1988 das inzwischen vielzitierte Wort vom „Zivilisationsbruch“ prägte, stellte apodiktisch fest: „Der Holocaust ist die ungeschriebene Verfassung der Bundesrepublik.“ Das ist politisch-moralisch so wahr, wie es juristisch abwegig ist, daraus einen Vorbehalt gegen die Meinungsfreiheit abzuleiten.

Wie aber soll man dem Gedächtnis verpflichtet bleiben, ohne die Idee der Freiheit zu verraten? Einer Minima Moralia der Bundesrepublik, die beiden Imperativen gerecht werden will, wäre die Aufgabe gestellt, den Holocaust als „ungeschriebene Verfassung“ beharrlich zu erinnern und zugleich die Bürgerrechte der geschriebenen Verfassung radikal ernst zu nehmen.

Der Autor ist Jurist und lebt in Kassel. Er ist Mitherausgeber der Bände „Rechtsradikale unter dem Schutz der Versammlungsfreiheit und Direkte Demokratie im Grundgesetz? – Zum Wunsiedel-Beschluss vom 4. November 2009“ (Evangelische Akademie Hofgeismar, 2010).

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