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Meinung: Nahost-Krise: Wunder sind nicht berechenbar - Ein Kommentar von Malte Lehming

Es war die Zeit der Wunder. Es war eine schöne Zeit.

Es war die Zeit der Wunder. Es war eine schöne Zeit. Seitdem wissen wir, dass Wunder möglich sind. Wir glauben an Wunder, wir hoffen auf sie. In Berlin fiel die Mauer, die Sowjets rückten ab, der Warschauer Pakt löste sich auf - und das Wort "Wahnsinn" machte die Runde. Wenig später sprang der Wunderfunke auf den Nahen Osten über. Zwei Erzfeinde, Jitzhak Rabin und Jassir Arafat, reichten sich die Hand, Israelis zogen aus besetzten Gebieten ab, Palästinenser übernahmen die Kontrolle. Das Ende eines jahrhundertealten Konfliktes schien in die Wege geleitet worden zu sein. Und wieder stammelten die Menschen dieses eine Wort: Wahnsinn.

Wunder sind verführerisch. Aber sie geschehen, wenn es ihnen passt. Erzwingen lassen sie sich nicht - auch nicht vom mächtigsten Mann der Welt. In einer Mischung aus Wut und Resignation muss Bill Clinton täglich mit ansehen, wie das Herzstück seiner Außenpolitik, der Friede im Nahen Osten, ins Reich der Utopien zurückwandert. So wie der scheidende US-Präsident hat sich keiner seiner Vorgänger in der Region engagiert. Jetzt ist er noch genau 17 Tage im Amt. Dann übernimmt George W. Bush das Weiße Haus. Für die amerikanische Nahost-Politik bedeutet das eine Zäsur. Zumindest in den ersten Monaten seiner Regierungszeit hat Bush andere Dinge zu tun, als sich um die Frage zu kümmern, ob aus Jerusalem ein zweites Nikosia oder ein zweites Belfast wird. Außerdem wird ihn das Beispiel Clinton eher Vorsicht als Mut gelehrt haben.

Wunder lassen sich nicht ausschließen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Lage in den kommenden 17 Tagen entscheidend ändert, liegt bei Null. Das wiederum ist fast tragisch. Denn alle Beteiligten wissen, dass der Clinton-Plan das Optimum dessen ist, was sie vom Friedensprozess erwarten konnten. Mehr ist nicht drin, für keinen von beiden. Doch dem idealen Kompromiss stehen die realen Verletzungen der vergangenen drei Monate schroff gegenüber. Hunderte von Palästinensern sind ums Leben gekommen. Wie soll Jassir Arafat seinen Anhängern erklären, dass diese Toten der Preis dafür sind, dass er endgültig auf das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge verzichtet? Andererseits: Die zweite Intifada hat erneut den Terror nach Israel gebracht. Wie soll Ehud Barak erklären, dass er als Belohnung für den Terror bereit ist, auf Teile Jerusalems zu verzichten?

Nein, seit dem Clinton-Plan ist der Frieden im Nahen Osten keine Sache von Verhandlungen mehr, sondern bloß noch eine Sache der Entscheidung. Doch dafür sind beide Seiten zu schwach. Arafat hatte seit Beginn des Friedensprozesses gegenüber seinen Landsleuten immer einen psychologischen Trumpf in der Rückhand gehabt: Seht her, es gibt jedes Jahr ein bisschen mehr, konnte er ihnen sagen, - mehr Land, mehr Souveränität, mehr Macht. Sollte er jetzt einen endgültigen Vertrag unterzeichnen, würde der Palästinenserpräsident den letzten Trumpf ausgespielt haben. Seine neue, klägliche Botschaft hieße dann: Mehr Land, Souveränität und Macht ist nicht zu bekommen. Diesen Moment fürchtet Arafat wie kaum etwas anderes. Rechte erkämpfen, das ist honorig. Auf ein Recht zu verzichten, selbst wenn es den Frieden brächte, das wäre Verrat.

Und wenn doch ein Wunder geschieht? Wenn Arafat über seinen Schatten springt? Dann wird die Freude von kurzer Dauer sein. Am 6. Februar wird in Israel gewählt. Jedes Abkommen steht also unter dem Vorbehalt einer Wiederwahl von Ehud Barak. Die aber ist höchst ungewiss. Denn in der Wahrnehmung eines duchschnittlichen Israeli ist sein Leben immer dann besonders gefährdet, wenn die Arbeitspartei am Ruder ist. Die drei Likud-Jahre unter Benjamin Netanjahu mögen politisch katastrophal gewesen sein. Aber der Terror hielt sich in Genzen. Die Arbeitspartei dagegen mag stärker dem Frieden verpflichtet sein. Aber den Terror hat sie nicht im Griff.

Die Zeit der Wunder war kurz. Und sie hat Illusionen geschaffen. Inzwischen wissen wir: Ein Handschlag ist nur ein Handschlag. Er allein schließt eine Entwicklung nicht ab, sondern leitet sie allenfalls ein. Wie lange die Entwicklung dann dauert, um an ihr Ziel zu gelangen, bestimmen neue, andere Wunder. Das Hoffen darauf kann uns keiner verbieten. Erwarten dürfen wir sie vorerst nicht.

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