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Die Glaubwürdigkeit des Großverdieners Steinbrück wird derzeit viel diskutiert.

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Nebeneinkünfte: Der Klassenkampf ist vorbei

Kann ein Großverdiener verstehen, was es heißt von Hartz IV zu leben? Sein Einkommen stellt Peer Steinbrücks Glaubwürdigkeit nicht infrage. Schon Marx und Engels haben das bewiesen.

Legen wir die Karten auf den Tisch: Erstens bewundere ich Peer Steinbrücks Kopf, Witz und politischen, ökonomischen Verstand. Dass er ihn in Vorträgen gegen Honorar vor schwerhörigen, womöglich unbelehrbaren Bankmanagern ausstellt, spricht vielleicht gegen seine Menschenkenntnis, aber nicht gegen die Substanz seiner regelmäßigen Kritik am Wahnsinn eines kapitalistischen Geschäftsmodells, das mit der realen Wirtschaft im Lande viel zu wenig zu tun hat.

Zweitens halte ich ihn für einen Sozialdemokraten in der gediegenen, ehrlichen, ja, bürgerlichen Tradition eines Helmut Schmidt oder Alex Möller. Dieser war Millionär und Willy Brandts Finanzminister, jener sollte es spätestens mit seinen Büchern werden. Aber was soziale Gerechtigkeit ist, und wie man sie politisch am besten durchsetzt, das wussten sie auch ohne einen Blick auf ihr Konto. Persönliches Einkommen ist keine Determinante von intelligenter Gesellschaftsanalyse und politischer Glaubwürdigkeit. Ehrlich erworbenes Einkommen ist auch keine Charakterfrage, die sich ab einer gewissen Höhe von selbst stellt. Ein Kanzlerkandidat repräsentiert im besten Fall nicht durchschnittliche Gehaltshöhen von Parteitagsdelegierten, sondern ihre politischen Hoffnungen.

Der sogenannte „Stallgeruch“, den manche Sozialdemokraten immer noch von ihren Kandidaten einfordern, ist ein emotionaler Restposten aus der Prä-Godesberg- Epoche der Partei. Das waren die Adenauer-Jahre, da die SPD im Bund buchstäblich unter sich blieb. Die umworbene Mitte der Wählerschaft von heute will nicht alte Parteigemeinschaft riechen, sondern exzellent regiert werden – im Namen von Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit, und zwar in dieser Reihenfolge. Ob der junge Steinbrück Plakate geklebt hat oder nicht, spielt für sie ebenso wenig eine Rolle wie seine Religion, seine Vorliebe für Borussia Dortmund oder die Form seiner Brille.

Da die meisten Anwürfe gegen den honorierten Redner Steinbrück aus der linken Ecke der SPD und der Gewerkschaften kommen, lohnt sich ein kurzer Blick auf den guten, alten Karl Marx: Den philosophischen Weltökonom, der an diversen Börsen ein kleines Vermögen verspekulierte (sein Onkel in Holland, ein Bankier, streckte das Geld vor), erboste bekanntlich die eingebaute soziale Ungerechtigkeit des Kapitalismus nicht minder heftig als seinen Gönner und Freund, den Fabrikanten Friedrich Engels. Dessen Familie hatte ein enormes Vermögen auf der Grundlage von nackter Ausbeutung im Wuppertal gemacht. Als dort die Kinderarbeit dank eines preußischen Gesetzes verboten wurde, zogen die Engels mit ihrer Textilfabrik weiter nach Engelskirchen; das lag außerhalb Preußens. Marx’ und Engels’ Theorien sind das beste Beispiel dafür, dass das Sein keineswegs das Bewusstsein bestimmen muss. Vergleichbar amoralisches Fabrikantentum können die publizistischen Kritiker dem Kanzlerkandidaten Steinbrück noch nicht nachweisen. Aber sie investigieren und recherchieren und trinken sich den üblichen, kostenlosen moralischen Rausch an, wenn es um Sozialdemokraten geht, die nicht mittelmäßig bezahlte Gewerkschaftsfunktionäre sind.

Ihr Vorwurf, ein wohlhabender Sozialdemokrat wie Steinbrück könne sich nicht vorstellen, was es heißt, mit ein paar Hartz-Euros über die Runden zu kommen, zielt auf die Idee eines imperativen Mandats, in dem Armut und berufliche Chancenlosigkeit eine Art mitgeführte Lebenserfahrung desjenigen zu sein haben, der sie politisch bekämpfen soll. Aber welcher angestellte Redakteur hat denn schon jene Elendserfahrungen gemacht, die er so beredt von Berufspolitikern einfordert?

Und drittens: Jeder Verlagsleiter der deutschen Printmedien verdient das Doppelte, mancher auch das Dreifache eines Bundestagsabgeordneten, von den Talkshow-Gastgebern und „Spiegel“-Chefredakteuren ganz zu schweigen. Nur der Chef des Axel Springer Verlags, dem Zentrum der publizistischen Moralaufsicht, kommt auf das Zehn- oder Dreißigfache. Auch ihre Gehälter addieren sich nicht zu Charakter- und Glaubwürdigkeitsfragen.

Grundlage der publizistischen Steinbrück-Kritik ist nicht Neid, wie er glaubt, sondern ein publizistisches Missverständnis vom Wesen politischer Repräsentation in ausgewachsenen Demokratien. In die Parlamente werden nicht mehr Delegierte eines Klassenkampfs des 19.  Jahrhunderts gewählt, sondern Repräsentanten einer höchst ausdifferenzierten Gesellschaft, deren schichtspezifische Interessen ihre legitime Vertretung in den Parlamenten finden. Wer wüsste das besser als die Gewerkschaftsfunktionäre mit Bundestagsmandat? Dass die Nebenverdienste dieser Abgeordneten offengelegt werden sollten, ist eine Selbstverständlichkeit – nur so lässt sich eine heimliche Motivlage einzelner Politiker im legislativen Geschäft kontrollieren. Steinbrück hat seine Honorareinnahmen offengelegt. Sie gründeten gerade nicht auf möglichen Einflussnahmen auf den politischen Prozess. Seine Ermahnungen an die Finanzklasse, zur ökonomischen Vernunft zurückzukehren, sind keine Liebedienerei. Mehr noch: Dass ein ehemaliger Finanzminister in öffentlichen Reden außerdem bereit ist, eigene Fehler zuzugeben, dürfte ein erfrischendes, wenn nicht gar schockierendes Erlebnis seiner Zuhörer gewesen sein.

Eine noch größere Honorartransparenz, die von der SPD und den Grünen für die Bundestagsabgeordneten gefordert wird, lehnen ausgerechnet die Regierungsparteien ab, die jene Steinbrück-Hysterien entfacht haben. Was haben sie eigentlich zu verbergen? Genauer: Wie kam die steuerliche Hotelier-Entlastung in Milliardenhöhe ins Gesetz? Wir werden es nie erfahren. Aber das ist ein anderes Kapitel.

Der Autor ist Publizist und SPD-Mitglied. Von 1998 bis 2001 war er Kulturstaatsminister in der Regierung von Gerhard Schröder.

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