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Meinung: Neudeutsche Gürteltiere

Roger Boyes, The Times

Die Touristengruppe nähert sich der London Bridge. Da springt ein Tourist mit Wollmütze und Brille auf eine Mauer und schreit: „Ich möchte mich für mein Land und für den Schandfleck auf seiner Geschichte entschuldigen!“ Das ist Jürgen der Deutsche, eine Erfindung des britischen Komikers Harry Enfield. Der Witz daran – der wie alle britischen Witze in seiner Wiederholung schnell langweilig wird – ist, dass Jürgen ein fanatischer Entschuldiger ist. Der Rest der Gruppe versucht, ihn zu beruhigen. „Ist gut jetzt, das ist doch alles lange her.“ Doch Jürgen gibt nicht auf. „Ist nicht gut jetzt! Ich beharre darauf, mich für die dunklen Jahre zu entschuldigen!“

Der Sketch ist vermutlich nicht jedermanns Geschmack, aber er zeigt immerhin, dass das Bemühen Deutschlands anerkannt wird, Weltmeister in Sachen Vergebung zu sein. Ein Modell für Politiker weltweit. Bill Clinton entschuldigte sich für die Untätigkeit der Welt während des Genozids in Ruanda und für die Behandlung japanischer Amerikaner während des Krieges. Tony Blair für die irische Hungersnot und die britische Kolonialpolitik, Papst Johannes Paul II. für die Kreuzzüge. Messlatte bleibt aber die deutsche Entschuldigungskultur – hat sie doch ihr Bedauern für den Holocaust mit Entschädigungszahlungen und einem glaubwürdigen Engagement dafür unterfüttert, Völkermord auch in Zukunft verhindern zu wollen.

Tony Blairs Entschuldigung für den Sklavenhandel in Afrika sah dagegen eher wie ein PR-Gimmick aus. Will er im Ernst die Nachkommen aller Sklaven entschädigen? Natürlich nicht. Gelegentlich ist eine Entschuldigung schlicht ein billiger Ausweg aus einer peinlichen Situation.

Trotzdem, der bloße Gebrauch des Wortes ist nützlich. Er erkennt an, dass Unrecht geschehen ist. Engländer, die versehentlich jemanden anrempeln, sagen automatisch „Sorry“, selbst wenn es nicht ihre Schuld ist. Der Berliner sagt dagegen: „Kannste nich uffpassen?“

Mir ist aufgefallen, dass Deutsche in letzter Zeit seltener Entschuldigung sagen. Vielleicht wurden sie alle durch die „Wir sind wieder wer“-Propaganda des „Spiegel“-Feuilletonisten Matthias Matussek und andere sogenannte neue Patrioten einer Gehirnwäsche unterzogen.

Es ist, als ob sich die Deutschen im Laufe des letzten Jahres eine Art Gürteltierpanzer angelegt hätten. Der unangenehme Nachgeschmack der Weltpokal-Party ist, dass sich Deutsche weniger empfindlich gegenüber kritischen Urteilen aus dem Ausland fühlen. Dabei war es früher genau diese Verwundbarkeit, die sie attraktiv machte: als Nachbarn, Gastgeber und Freunde. Letztens zerbrach meine Brille schon zum dritten Mal, und ich ging zum Optiker. Vermutlich ist die teure Brille einfach fehlkonstruiert (übrigens eine andere als die, die Sie auf dem 15 Jahre alten Foto sehen), zumal ich sie niemals beim Extremsport getragen habe. Der Optiker war freilich nicht bereit, zuzugeben, dass er mir eine fehlerhafte Brille verkauft hat. Zumindest eine Entschuldigung hätte ich erwartet – stattdessen bekam ich einen Vortrag darüber, dass ich meine Brille falsch absetzen würde. Ich war verblüfft. Wie viele Möglichkeiten es wohl gibt, seine Brille abzusetzen? Gibt es zu diesem Thema ein Standardwerk? Könnte er mir nicht mal eine Brille verkaufen, die man nicht mehr abnehmen muss?

Nicht nur die Abwesenheit jeglicher Entschuldigung machte mich ratlos, sondern der Versuch, dem Opfer die Verantwortung aufzubürden. Das ist eine giftige Kombination – dabei dachte ich eigentlich, nach vier Jahrzehnten des Entschuldigens wären die Deutschen vor solchen Tricks gefeit. Stattdessen sind sie in jede Nische der Dienstleistungswirtschaft gekrochen. Versuchen Sie mal, die Telekom davon zu überzeugen, dass sie einen Fehler begangen hat – und dass sie die Verantwortung dafür übernehmen sollte. Ich habe mich mal über eine ISDN-Verbindung beschwert. Ein Betriebsleiter drohte daraufhin, mich wegen Beleidigung vor Gericht zu bringen. Dabei wollte ich einfach nur „Entschuldigung“ hören. Ich danke Gott, dass die Telekom jetzt streikt.

Natürlich gibt es einen Unterschied im Entschuldigen – einer Nation etwa, einer ganzen Gesellschaft oder einer einzelnen Person. Doch Deutschland ändert sich auf all diesen Ebenen. Das Land wird unhöflicher, unwilliger, Verantwortung zu übernehmen. Die Stimmung ist härter geworden. Ich finde das ein bisschen schade, aber vielleicht ist das auch mein persönliches Problem.

Entschuldigung.

Übersetzt von Sebastian Bickerich.

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