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Meinung: Noch ist Polen nicht gewonnen

Populismus in Osteuropa: 100 Tage vor dem EU-Referendum zerbricht die Regierung

Am Sonnabend probte Polen schon mal die neue Zweithymne: die europäische. Überall im Land begann die Kampagne für das EU-Referendum im Juni. Premier Leszek Miller wirkte jedoch seltsam lustlos, als Animateure und Publikum im Rhythmus der Beethoven-Melodie in die Hände klatschten. Er hatte gerade die Regierungsmehrheit verloren. Dabei war seine ex-kommunistische SLD die Koalition mit der Bauernpartei PSL doch auch mit dem Ziel eingegangen, die zögernden Bauern für die EU zu gewinnen.

Schwer begreiflich: Eine neue Mehrheit ist nicht in Sicht, aber das politische Polen tut so, als habe das eine mit dem anderen nichts zu tun. Die Bauernpartei habe gegen das Regierungsprojekt Autobahnvignette gestimmt und behalte sich bei weiteren Vorhaben Opposition vor, begründet Miller das Ende der Koalition. Regierungschefs müssen sich auf die Disziplin ihrer Koalitionäre verlassen können. Und doch, Streitthemen wie Maut oder Biodiesel wirken unbedeutend gegenüber dem großen Projekt, das Polens Schicksal für Jahrzehnte entscheidet. Mag sein, Miller hält den Ausgang so oder so für gesichert. Nach den Umfragen wollen 60 bis 70 Prozent für den EU-Beitritt stimmen.

Aber das könnte sich ändern, wenn die Bauernpartei, befreit von der Loyalitätspflicht, in den Chor der vielen anderen Populisten einstimmt, die nationale Identität sei in Gefahr und in den Beitrittsverhandlungen sei man viel zu schlecht weggekommen. Die Stimmung im Land wirkt wie zu Beginn der letzten Fußball-WM. Nach jeder Niederlage sangen sich die Fans Mut zu: „Nic sie nie stalo …“ (Noch ist nichts passiert …). Nach der Vorrunde war dennoch Schluss.

Ist es der Mut der Ausweglosigkeit, der Miller so gelassen macht? Fast überall in Ostmitteleuropa hat die Enttäuschung über die abwechselnd regierenden beiden großen Lager – die ex-kommunistische Linke und die (schwächeren) nationalkonservativen Sammelbewegungen, deren Führer oft Dissidenten waren – die Populisten stark gemacht; dazu trugen Korruptionsskandale bei der Privatisierung und Arbeitslosigkeit bei. Ihr Erfolg verhindert, soweit sie sich nicht aus Gier nach Ämtern einbinden lassen, stabile Regierungsbildungen. In Polen holten sie im Herbst 2001 mehr als ein Drittel der Sitze.

Der Führer der zweitstärksten Fraktion „Selbstverteidigung“, Andrzej Lepper, wäre zwar bereit, in die Regierung einzutreten. Aber er hat noch vor wenigen Monaten Straßen blockiert und EU-Weizen aus Eisenbahnwaggons gekippt. Eine Koalition mit ihm würde die vielen Polen empören, die Miller nur aus Staatsraison stützen, und im Ausland einen fatalen Eindruck machen. Zudem wäre sie für Miller auch nicht besser als das Bündnis mit einer Bauernpartei, die gleichzeitig in Regierung und Opposition sein will.

Die einzige Oppositionskraft, die den EU-Kurs aus Überzeugung mitträgt, die konservative Bürgerplattform, kann auch 13 Jahre nach der Wende politisch nicht mit den Ex-Kommunisten. Miller darf sich aber darauf verlassen, dass sie das nationale Interesse obenan stellt und den EU-Kurs nicht unterläuft, nur um ihn scheitern zu sehen. Eine Minderheitsregierung über Monate, die sich von Fall zu Fall Mehrheiten sucht, ist jedoch ein Risiko vor dem Referendum.

Einen Ausweg aus der Konstellation böte allein eine vorgezogene Wahl, 16 Monate nach der letzten. Die will Miller schon gar nicht, den triumphalen Sieg von damals kann er nicht wiederholen. Da bleibt nur der Trost der Nationalhymne: Noch ist Polen nicht verloren … Retten kann sich das Volk immerhin selbst – beim Referendum.

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