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Meinung: Nordirland: Lehren einer Einschulung

Morgen ist in Berlin Einschulung. Das ist ein aufregender Tag für die Kinder, für ihre Eltern und die nahen Verwandten.

Morgen ist in Berlin Einschulung. Das ist ein aufregender Tag für die Kinder, für ihre Eltern und die nahen Verwandten. Neben Taufe und Konfirmation, Kommunion oder Jugendweihe ist der erste Schultag eines der festlichsten Ereignisse in den Familien. Und weil mit diesem Tag für die meisten Kinder ein lange herbeigesehnter, neuer Abschnitt im Leben beginnt, denken die Menschen daran bis ins hohe Alter gerne zurück.

In Belfast war der erste Schultag schon vor einer Woche. Auch die meisten nordirischen Kinder werden ihn in schöner Erinnerung behalten. Aber nicht alle. Für die Mädchen, die zum ersten Mal den Schulweg zur Holy-Cross-Schule im Norden von Belfast gehen mussten, wird dieser Tag als traumatisches Ereignis ein Lebenlang haften bleiben und deshalb wahrscheinlich auch den weiteren Verlauf des Lebens dieser Mädchen bestimmen. Denn sie haben an diesem Tag blanken Hass kennen gelernt und um ihr Leben gefürchtet. Ihr Unglück ist, dass sie katholisch sind und dass der Weg zum Haupteingang ihrer Schule durch eine von Protestanten bewohnte Straße führt. Diese Kinder sind instrumentalisiert worden für eine brutale, alle zivilisatorischen Fortschritte, alle Aufklärung verhöhnende Kampagne. Kinder als gezielt ausgesuchte Opfer von Bürgerkriegen - das ist die wohl infamste Variante menschlicher Niedertracht. Wir kennen das aus Sarajevo und aus dem Nahen Osten. Jetzt also auch in Nordirland.

Bei uns weiß niemand, ob in einer Straße protestantische oder katholische Berliner wohnen. Allenfalls, dass sie mehrheitlich moslemisch sind, kann man in manchen Stadtteilen vermuten. Und niemand, der durch diese Straßen geht, wird nach seiner Konfession gefragt werden. In Belfast ist das anders. 30 Jahre nach den ersten Versuchen, die Benachteiligung der Katholiken zu beseitigen, ist die nordirische Gesellschaft weitgehend aufgespalten in katholische und protestantische Regionen, Gemeinden und Straßen. Und da, wo sich die Wohngebiete verschiedener Bekenntnisse ineinander verzahnen, herrscht blinde Intoleranz, stehen Mauern. "Tunnelmentalität" nennt man dieses blockierte Denken innerhalb konfessioneller oder ethnischer Grenzziehungen. Tunnelmentalitäten erleben wir zwischen Israelis und Palästinensern, im Baskenland, auf dem Balkan. Und in Nordirland. Als "konfessionell vergiftet" bezeichnen die dem fanatischen Streit fassungslos gegenüber Stehenden eine solche Haltung.

Für eine Entgiftung braucht man viel Zeit und etwas guten Willen auf beiden Seiten. Man braucht Moderatoren, die da ein Gespräch anstoßen, wo Schweigen statt Schreien schon als Fortschritt empfunden wird. Man braucht ein bisschen Großzügigkeit, Bereitschaft, den ersten Schritt zu tun und nicht jede kleine Rempelei gleich als Beginn eines neuen Krieges zu dramatisieren. Und man braucht Hoffnung. Hoffnung auf die nächste Generation, darauf, dass Bildung langsam die Vorurteile zurückdrängt, und dass Kinder, die zusammen spielen, sich später nicht mit Steinen bewerfen. Das Problem Nordirlands ist allerdings, dass die Kinder verschiedener Bekenntnisse gar nicht mehr zusammen spielen.

Wer Kinder in einem solchen Konflikt benutzt, trifft die Gesellschaft an ihrem empfindlichsten Nerv. Kinder dürfen nicht Opfer, und auch nicht zu Tätern manipuliert werden - das ist eine Gewissheit, die über alle Religionen und Weltanschauungen hinweg gilt. Eine Gewissheit, die immer wieder bösartig zerstört wird, fast überall, wo Konflikte der Vergangenheit das Zusammenleben in der Gegenwart verhindern, weil niemand die Geschichte Geschichte sein lassen und neu anfangen will. Und die missbrauchten Kinder sollen den Hass in die nächste Generation tragen. Das ist der Plan derer, die sie angreifen und missbrauchen. Vorurteile und Blindheit sollen Verzeihen unmöglich machen, sollen fortzeugend Böses gebären - neue Vorurteile, neue Blindheit.

Was hilft aus diesem Teufelskreis? Dass die Menschen irgendwann der ewigen Schlachten müde sind, dass sie ihren Sinn nicht mehr einsehen und nicht ihr ganzes Leben damit vergeuden wollen. Dass die Bereitschaft zum Vergeben übermächtig wird. Hoffen wir auf die vielen Kinder, die einen schönen ersten Schultag hatten - mitten in Nordirland.

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