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Öffentliche Trauer: Über den Tod hinaus

Sonst singen die Fans. Diesmal schwiegen und schweigen sie. Und mit ihnen schweigen mitnichten nur die Fans. Denn der Tod, die Selbsttötung des Fußballtorhüters Robert Enke, wühlt ein ganzes Land auf.

Sonst singen die Fans. Diesmal schwiegen und schweigen sie. Und mit ihnen schweigen mitnichten nur die Fans. Denn der Tod, die Selbsttötung des Fußballtorhüters Robert Enke, wühlt ein ganzes Land auf. In Enkes Heimat Hannover sind 35 000 auf die Straße gegangen, in einem Schweigemarsch; natürlich aus der Innenstadt hinaus zum Stadion, aber eben nicht als Fußballfreunde. sondern als eine Öffentlichkeit, wie wir sie nur selten in diesem Land der Mediendemokratie, der Talkshows und Stubenhocker erleben. Spontan haben sie sich versammelt und ebenjene Öffentlichkeit hergestellt, deren Fehlen wir oft genug beklagen.

Das weist über die Person des Toten hinaus. Menschen, die einander nicht kennen, haben sich zusammengefunden, um im Augenblick der Trauer, des Erschreckens oder des Unverständnisses nicht allein zu sein. Gesellschaft hat sich gezeigt, gerade so, wie wir es aus den Erzählungen über Kundgebungen historischer Zeiten hören. Dieser Trauermarsch hat sich spontan gebildet und damit ein ganz wesentliches Element einer funktionierenden Polis gezeigt: dass Bürger sich im Moment gemeinsamer Gedanken gewissermaßen selbst erkennen. Aus welchen Gründen der Einzelne mitging, lässt sich kaum ergründen und spielt überdies keine wirkliche Rolle. Denn hier ist die Menge die Botschaft.

Bei Enke hat Depression zum Todeswunsch geführt. Nun wird eine breite Diskussion über Depressionen in unserer Gesellschaft anheben, nicht allein im Sport. Leistungssportler sind in hohem Maße Vorbilder, weil sie als Person fassbar verkörpern, was unsere Gesellschaft sein soll: eine Leistungsgesellschaft. Funktionieren ist alles, und noch in den Diskussionen um eine bessere Hilfestellung für schlecht Ausgebildete und wirtschaftlich Schwache steckt der kategorische Imperativ dieses Gesellschaftsmodells, nämlich mehr und immer mehr zu leisten. Auch darüber wird zu reden sein.

Doch zugleich folgte der Prozessionszug der 35 000 einem zutiefst menschlichen Antrieb – der Angst vor dem Tod. Er ist ein Protest gegen die ungeheuerliche Zumutung, dass wir endlich sind und sterben müssen. Und gegen die Zumutung, die Robert Enke im Besonderen darstellt: dass sogar das Leben, an dem wir um jeden Preis hängen, nicht mehr wertvoll genug erscheinen kann, es zu bewahren. Landesbischöfin Margot Käßmann, unlängst zur Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche gewählt, hatte das vor dem Schweigemarsch in ihrer Trauerandacht auf einen Punkt gebracht, der auf jedermann zielte. „You’ ll never walk alone“, zitierte sie den Schlachtgesang der Fans aus Liverpool, die für die Treue zu ihrem Klub berühmt sind.

Und mit einem Mal enthüllte die ebenso aufgeklärte wie seelsorgerische Bischöfin einen ganz anderen Sinn. Menschen wollen und sollen nicht allein sein, ob sie nun gläubig sind oder nicht; und die Depression als Volkskrankheit ist nur ein Ausdruck dafür, dass das Leben eines jeden prekär ist. In diesem Moment eines so plötzlichen Todesfalls schaut eine ganze Gesellschaft hin, schaut auf sich und ihre Anforderungen. Gerade weil Robert Enke so auffällig unauffällig war, so selbstverständlich seinen Beruf ausübte und sein Privatleben führte, erkennen sich so viele Menschen in ihm wieder. Dass das Alltägliche, das Normale in den Abgrund des Todes führen kann, ist der Schrecken, der in Hannover öffentlich geworden ist. Die Gesellschaft, die gemeinsam trauernd schweigt, muss nun auch miteinander sprechen.

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