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Ohnmacht und Krise: Die Wut sucht ein Gesicht

Muss man, unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise, von einer vorrevolutionären Situation sprechen? Auch wenn man das im sicherheits- und wachstumsverwöhnten Westen vergessen hat: Geschichte ist nun einmal ergebnisoffen, und die Wut wächst.

Als die aufgebrachte Menge am 14. Juli 1789 die Bastille stürmte, saß dort nur eine Handvoll Gefangener ein. Die Befreiten waren weder politische Opfer des schon im Wanken begriffenen Systems, noch traf der Pariser Volkszorn in der Festung auf Repräsentanten der verhassten Monarchie. Dennoch wurde die Aktion zum Symbol des Aufstands. Die Französische Revolution nahm ihren Lauf. Bald rollten unter der Guillotine die Köpfe.

Muss man 220 Jahre später, unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise, von einer vorrevolutionären Situation sprechen? Auch wenn man das im sicherheits- und wachstumsverwöhnten Westen vergessen hat: Geschichte ist nun einmal ergebnisoffen, und die Wut wächst. Die begründete Wut auf Banken und Manager, auf Politiker und internationale Gremien wie die G 20, die sich nächste Woche in London treffen. Die Krise hat viele Gesichter. In Athen toben Straßenschlachten. In Frankreich zünden Arbeiter Autoreifen an. In den USA hausen Menschen aus der Mittelschicht in Zeltstädten. Aber sie hat kein Gesicht, ebenso wenig wie die Globalisierung und der Klimawandel. Wer ist für all das verantwortlich zu machen, und mit welchen Gesetzen, wenn Wut und Empörung nicht in blinde Willkür umschlagen sollen – 20 Jahre nach dem wenigstens in Deutschland friedlich vonstatten gegangenen Ende des sozialistischen Experiments? Entpuppt sich der Kapitalismus als der noch gewagtere, riskantere Großversuch, gesellschaftlich und ökonomisch?

Die Krise hängt sich nicht an Brotpreis oder Reisefreiheit auf, sie ist auf beängstigende Art unübersichtlich und vielgestaltig. Und abstrakt: Bonuszahlungen kann man unter Umständen zurückfordern oder an Krisenopfer verteilen, wie es der frühere Vizechef des US-Versicherungsriesen AIG angekündigt hat; der hat das in der Portokasse. Aber Lawinen fauler Kreditpakete und verbranntes Geld in Staatshaushaltshöhe übersteigen ebenso die Vorstellungskraft wie billionenschwere Rettungsprogramme. Daher rührt dieses bittere Ohnmachtsgefühl, das alle erfasst. Tritt nicht schon Abstumpfung ein? Wer interessiert sich noch für afrikanische Hungersnöte oder das Elend chinesischer Wanderarbeiter, wenn Opel der Konkurs droht? Der globale Charakter der Krise wirft die Menschen auf sich selbst zurück. Abwrackprämie ist das Wort der Stunde. Es hat einen barbarischen Unterton. Denn es geht um Menschen. Sie zahlen den Preis, wenn sich Teile des westlich-demokratischen Systems selbst abwracken.

In Berlin und in Frankfurt am Main gibt es keine Zeltstädte mit Arbeits- und Obdachlosen. Dort werden sich am Sonnabend Demonstrationszüge unter dem Motto „Wir zahlen nicht für eure Krise!“ formieren. Manch einer wittert schon Kreuzberger Mailuft, und es weht ein Hauch von „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ durch die Demo-Aufrufe. Gleichzeitig herrscht hierzulande eine fast mutig zu nennende Ruhe.

„Eure Krise“? Wir haben doch alle, wie der Bundespräsident meint, über unsere Verhältnisse gelebt. Auch dieser Satz ist nur ein Ausweis politischer Ohnmacht. Horst Köhler stand jahrelang an der Spitze des Internationalen Währungsfonds. Der Spätkapitalismus droht zum Postsozialismus zu werden: Die Bewältigung der Krise liegt in den Händen derer, die sie mitverursacht haben. Und in den USA erleben wir, wie schnell sich der Hoffnungsträger Obama abnutzt. Kein klares Feindbild, eine verblassende Lichtgestalt. Die Welt tappt im Dunkeln.

Rüdiger Schaper

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