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Essay: Osman in Jerusalem. Der Nahostkonflikt wird neu definiert

Der Nahost-Konflikt war eine Zeit lang vor allem ein Konflikt zwischen Israel und Palästina. Doch Israel fällt zurück in seine Vergangenheit, sagt der israelische Historiker Moshe Zimmermann. Und entfremdet damit zunehmend auch die Türkei.

Am 31. Mai hat die israelische Marine bei der Erstürmung eines Schiffes, das die Blockade des Gazastreifens durchbrechen wollte, neun türkische Staatsbürger getötet. Für Erdogans Türkei ist das eine Provokation, aber zugleich eine Gelegenheit, demonstrativ auf Distanz zu Israel zu gehen. Erdogans harsche Reaktion ist jedoch nicht nur zu verstehen als Antwort auf den jüngst verübten Versuch von Israels stellvertretendem Außenministers Ayalon, vor laufenden Kameras den türkischen Botschafter in Tel-Aviv wegen der Kritik der türkischen Regierung an Israels Palästina-Politik zu demütigen. Nein, es geht auch um eine Aufrechnung, die wesentlich tiefer sitzt und eine lange Vorgeschichte hat.

Theodor Herzl wollte den Weg zum Judenstaat über das Osmanische Reich gehen

Als Theodor Herzl, der Vater des Zionismus, seine Vision vom Judenstaat in Taten umsetzen wollte, glaubte er zunächst, er müsse den Weg nach Palästina über den „kranken Mann am Bosporus“ beschreiten. Damals, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, ging es um das Osmanische Reich, das sich kurz vor dem Niedergang befand. Doch erkannte Herzl sehr bald, dass es ihm auch mit viel „Bakschisch“ nicht gelingen werde, den Sultan zum Freund des Zionismus zu machen, also dessen Zustimmung für eine geordnete nationalorientierte Einwanderung von Juden aus Europa nach Palästina zu erlangen.

Konsequent machte Herzl den damals realpolitisch gescheiten Umweg – über die Großmächte, die Verbündete des Osmanischen Reichs waren, wie etwa das deutsche Kaiserreich, oder Erben dieses Reichs nach seiner Zerstückelung werden sollten, wie Großbritannien und Russland. Herzls Rechnung ging erst fünfzehn Jahre nach seinem Tod auf: Das Osmanische Reich verschwand am Ende des Ersten Weltkrieges, und das siegreiche Großbritannien wurde zur Schutzmacht der jüdischen Heimstätte in Palästina, die 1948 zum Staat Israel werden konnte.

Doch bereits in den letzten zwanzig Jahren des Osmanischen Reiches hatte es die zionistische Bewegung geschafft, in dem Gebiet Palästinas Fuß zufassen. Der Konflikt der Zionisten mit der arabischen Bevölkerung Palästinas hat also unter den wenig wachsamen Augen der Osmanen, eigentlich der türkischen Regierung, begonnen. Unter dieser Herrschaft, die sich vor einem arabischen wie auch einem jüdischen Nationalismus fürchtete, wurden bereits die Keime des Nahostkonflikts und der gegenwärtigen israelischen Politik gesät.

Nun schien bis vor kurzem diese Vorgeschichte keine aktuelle Bedeutung mehr zu haben. Die Bezeichnung „Nahostkonflikt“, zunächst bezogen auf die Auseinandersetzung zwischen Israel und den arabischen Staaten, reduzierte sich immer mehr auf den territorial begrenzten palästinensisch-israelischen Konflikt – bis 1990 unter dem Vorzeichen des Kalten Krieges und seither im Rahmen des „Krieges der Kulturen“. Die Türkei galt dabei eher als Zuschauerin oder „ehrliche Maklerin“. Das große muslimische Land konnte während des Kalten Krieges und lange Zeit trotz des aufflackernden Krieges der Kulturen mit Israel freundliche Beziehungen pflegen und dank amerikanischer Interessen im Militärbereich eine enge Zusammenarbeit vorweisen. Wofür Israel auch eine Gegenleistung erbrachte: Obwohl selbst von einem Genozid – der Schoah – entscheidend geprägt, war das offizielle Israel bereit, den Völkermord an den Armeniern durch die osmanische Türkei von 1915 aus der Erinnerung zu verdrängen.

Die Türkei wendet sich den muslimischen Nachbarn zu

Dies war die Lage, bis die Türkei vor etwa sieben Jahren zunehmend unter islamischen Einfluss geriet und von der skizzierten Position allmählich Abschied nahm. Erdogans Türkei wurde zunehmend der ablehnenden und patronisierenden Haltung Europas überdrüssig und setzte sich gegen die als Bedingung für eine Aufnahme in die Europäische Union geforderte westliche Maxime der Demokratie zur Wehr. Das Land begann wieder, wie in osmanischen Zeiten, nach Süden und Osten zu schauen und mit den im Islam aktiven politischen Kräften zu koalieren, sogar mit dem schiitischen Iran Ahmadinedschads.

In Bezug auf Israel entsteht geradezu der Eindruck, die Türkei möchte auf diesem Weg Buße tun für das, was vor hundert Jahren im Osmanischen Reich aufkeimen konnte. Andererseits trugen auch der Gazakrieg 2009 und das Duo Netanjahu/Lieberman zur steigenden Entfremdung zwischen beiden Ländern wesentlich bei. Israel begann sich so zu verhalten, als ob man erneut mit den alten Türken, mit Gegnern des zionistischen Unternehmens, konfrontiert sei. Das mündete alles schließlich in den Zwischenfall auf der „Marmara“ in der vorvergangenen Woche.

Tatsächlich scheinen manche gegenwärtige Tendenzen der israelischen Politik direkt an Traditionen aus der Zeit der Osmanen anzuknüpfen. Herzl hatte es ja nicht geschafft, vom Sultan eine Charta, eine Genehmigung für die Gründung von jüdischen Siedlungen, zu erhalten. So hatte sich die zionistische Bewegung für die Taktik der schleichenden Siedlung entschieden. Die hebräische Parole „Dunam poh – Dunam sham“, also „ein Hektar hier und ein Hektar dort“, war unter osmanischer Herrschaft zur Strategie hochstilisiert worden. Eben dieser Parole bedient sich seit der Eroberung (Pardon: Befreiung) des Westjordanlandes die Siedlerbewegung: ein Hügel hier und ein Hügel dort – am Ende gehört uns „Ganz-Israel“.

Obwohl inzwischen der Staat Israel entstanden und in den Grenzen zwischen 1948 und 1967 eine derartige Taktik sinnlos geworden war, verlor diese Siedler-Romantik nicht an Anziehungskraft. Die heutigen Siedler im Westjordanland betrachten sich als eine moderne Version der Pioniere aus der Zeit des osmanischen Palästinas. Sie hoffen, mit dieser Taktik sowohl die Palästinenser als auch die eigene Regierung einschüchtern zu können, und sie sind überzeugt, am Ende das Ziel – „Ganz-Israel“ in jüdischer Hand – zu erreichen.

Die radikalsten und brutalsten unter den Siedlern, die sogenannte Hügel-Jugend, verbinden diese vorstaatliche Romantik mit einer fundamentalistischen Auslegung der Bibel. Sie halten sogar die gegenwärtige, stark rechtsorientierte israelische Regierung in Schach und stehen ihr gegenüber, als wäre sie eine bloße Variante der osmanische Regierung, gegen die die Taktik der schleichenden Besiedlung des Landes und des Abwehrkampfes gegen Araber-Palästinenser angewendet werden darf.

Somit sind wir bei der zweiten wichtigen zionistischen Tradition aus osmanischer Zeit – der Selbstwehr der Juden in Palästina. Die jüdischen Kolonien im Osmanischen Reich fühlten sich von den arabischen Bewohnern des Landes bedroht, wurden hin und wieder auch tatsächlich Opfer von Überfällen. So gründete man die Organisation Hashomer – „Der Wächter“ –, da man sich nicht auf den Staat, also das Osmanische Reich, beim Schutz der Siedlungen verlassen konnte. Diese Organisation wurde zu einem Mythos, auf dem auch die Tradition des israelischen Militärs beruht: Anders als in der Diaspora sind Juden hier, im Lande Israel, nicht schutzlos, heißt es. Hier reagieren Juden mit der Waffe in der Hand.

Aus der Osmanischen Zeit bleibt der Glaube an die Feindschaft zwischen "den Arabern" und "den Juden"

Dieser Mythos ist bis heute so stark, dass man auch unbewaffnete Schiffe, die auf dem Weg nach Gaza sind, mit der Waffe zu stoppen versucht. Die Schießfreudigkeit der Israelis beruht auf diesem Mythos, der aus der Schoah noch viel Nachschub zieht. Mehr noch: Wenn man Waffen hat, ist die klare Trennung von Gut und Böse erforderlich. Die klare Vorstellung von „den Arabern“ als Feinden „der Juden“ und „des Juden“ als einem Feind „des Arabers“ ist auf diese frühe Phase, nämlich auf die osmanische Zeit, zurückzuführen.

Aus osmanischer Zeit kommt auch die Parole Avoda Ivrit – „hebräische (jüdische) Arbeit“. Angeblich eine Erwiderung auf den antisemitischen Vorwurf, Juden seien arbeitsscheu, wurde dieser Slogan zum Mittel, um die Konkurrenz der billigeren und erfahreneren arabischen Arbeiter von den jüdischen Kolonien und Städten fernzuhalten. Dieser Slogan konnte in den letzten Jahren angeblich aus sicherheitspolitischen Erwägungen gegen die Beschäftigung von palästinensischen Arbeitskräften im Kerngebiet Israels eingesetzt werden. Die Siedler jenseits der „grünen Linie“ agieren jedoch weniger konsequent, aber umso zynischer: Die Bauarbeiter, die die israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten errichten, sind Palästinenser, die so in dem vom Sicherheitszaun umgebenen Gebiet mit extrem hoher Arbeitslosigkeit bescheiden verdienen können.

Eine andere Tradition aus osmanischen Zeiten, die sogar das israelische Gesetzbuch übernommen hat, ist die Vorherrschaft des religiösen Gesetzes im Familien- und Personenstandsrecht. Unter den Osmanen konnte man nur im Rahmen der religiösen (muslimischen, christlichen und jüdischen) Gemeinde heiraten. Diese Regelung hat die britische Mandatsmacht ebenso wie dann der Staat Israel übernommen. Bis heute gibt es keine vor staatlichen Institutionen geschlossene Zivilehe in Israel.

Die Tradition des religiösen Personenstandsrechts bliebe im Zusammenhang der Frage des Verhältnisses zwischen Staat und institutionalisierter Religion eher esoterisch, wenn sich nicht zwischen Damals und Heute diese Beziehung revolutioniert hätte.

Besonders in den letzten drei Jahrzehnten wurden alle Gesellschaften im Nahen Osten religiöser, fundamentalistischer, das Potenzial für Religionskriege wurde explosiver. Der Zionismus der ersten Stunde war säkular, die später entstandene palästinensische Nationalbewegung im Grunde auch. Die Jungtürken und der Gründer der modernen Türkei, Kemal Atatürk, waren selbst Meilensteine auf dem Weg zur säkularen Politik der Türkei. Heute bedeutet Religiosität sowohl in der muslimischen Türkei, in Palästina (vor allem in den Reihen der Hamas) oder in Ägypten, aber auch im jüdischen Israel mehr Kriegsbereitschaft, weniger Konfliktscheu.

Und noch ein Überbleibsel aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ist erwähnenswert. Die zionistische Bewegung suchte von Anfang an den Schutz einer überregionalen Großmacht – das Osmanische Reich wurde im Endeffekt ignoriert. Dann kamen die Briten und schließlich – für den selbstständigen Staat Israel – die USA. Solange auch die Türkei sich den Großmächten untergeordnet hatte, war ihr diese Politik Israels akzeptabel.

Als in den letzten Jahren die Konkurrenz der Großmächte wieder aufflammte und die Vereinigten Staaten nicht mehr erfolgreich die Weltpolizei spielen konnten, versuchte die Türkei, ihre Rolle im Nahen Osten als regionale Großmacht wieder aufzunehmen und zwischen Israel und der arabischen Seite zu vermitteln. Da aber Israel aus lauter Angst um seine Sicherheit, gekoppelt mit einer gewissen Überheblichkeit und dem Glauben an die Allmacht der USA, derartige Vermittlungsinitiativen für nutzlos hält, ist die Beziehung zu Israel für die sich zunehmend mit dem Islam identifizierende Türkei nicht mehr von Vorteil – und dies in einer Zeit, in der mit dem Iran eine weitere regionale Mittelmacht an Bedeutung gewinnt, mit der die Türkei leicht eine gemeinsame, den USA gegenüber unfreundliche Politik betreiben kann.

Der Nahostkonflikt wird neu definiert

Auch der Nahostkonflikt wird somit neu definiert: Es geht um die gesamte Region zwischen Istanbul, Kairo und Teheran. Für eine israelische Regierung nach Vorstellung Avigdor Liebermans, die mit dem eigenen Verhalten scharfe Reaktionen im Ausland hervorruft, nur um sich in der Behauptung bestätigt zu fühlen, alle Welt sei gegen Israel, alle Welt sei antisemitisch, ist auch diese Entwicklung, ja, sogar die Konfrontation mit der Türkei als Erbin des Osmanischen Reichs, durchaus willkommen. Da wird man auch an die kleine, in der kollektiven Erinnerung Israels mythisch aufgewerteten NILI-Gruppe erinnert. Um die türkische Herrschaft zu beseitigen, hatte diese Gruppe nämlich 1917 für Großbritannien spioniert, als die Briten im Begriff waren, von Ägypten aus in Richtung Palästina vorzustoßen.

Vielleicht versteht sich Israel auch, wie die zionistische Bewegung im osmanischen Palästina zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Vorposten Europas im Nahen Osten und damit als ein Land, das mehr Recht auf Aufnahme in die EU hat als die Türkei. Vielleicht stellt man sich eine neue Belagerung Wiens vor, also einen Nahostkonflikt in wesentlich größeren Dimensionen. Letztendlich sind ja Türken in Europa nicht so sehr beliebt. Nur finden es viele Israelis schade, dass sie wegen dieser Trendwende auf den Urlaub in Antalya verzichten müssen, wo sie ja stets das System des „all included“ so sehr genossen haben.

Moshe Zimmermann

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