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Meinung: Pamuks Mahnung

Nur ein EU-Beitritt kann den Nationalismus in der Türkei besiegen Von Faruk Sen

Seit der Ermordung von Hrant Dink und der Absage des Deutschlandbesuchs von Orhan Pamuk hat die neue Welle des Nationalismus in der Türkei, die nun eine terroristische Qualität zu bekommen droht, auf schreckliche Weise ihren Weg in die europäische Öffentlichkeit gefunden.

Die Lobby für den EU-Beitritt der Türkei dürfte damit weiter schrumpfen, leider: Denn die Vorgänge belegen, wie wichtig eine europäische Perspektive für die Türkei ist. Es gilt für die Türken, endlich eine Form des Nationalgefühls zu etablieren, das einem Vielvölkerstaat angemessen ist, und das in einem gemeinsamen europäischen Haus. Die Nationalisten handeln gegen die Interessen der Türkei, und die Reaktionen auf die Ermordung Dinks zeigen, dass der Bevölkerung dies bewusst ist. Die europäische Perspektive des Landes muss deshalb offen bleiben.

Schon seit Dezember 2006 scheint der EU-Beitritt der Türkei so fraglich geworden zu sein wie schon seit Jahren nicht mehr. Allerdings hat Europa die Tür noch nicht ganz zugeschlagen. Mit dem Kompromiss, acht von 35 Verhandlungskapiteln in den EU-Beitrittsgesprächen mit der Türkei auszusetzen, haben sich auf der EU-Außenministerkonferenz weder Skeptiker noch Befürworter des EU-Beitritts der Türkei klar durchgesetzt. Doch die Zustimmung zum Prozess schwindet, in Europa wie in der Türkei. Seine früheren Befürworter Gerhard Schröder und Silvio Berlusconi sind aus dem Amt, ihre Nachfolger haben für deutliche Zäsuren in der Türkeipolitik ihrer Länder gesorgt. Mit Tony Blair ist ein weiterer Verfechter des türkischen EU-Beitritts zur „lame duck“ geworden. Währenddessen hat sich mit Jacques Chirac ein weiterer wichtiger Architekt des Beitrittsprozesses unter innenpolitischem Druck zum Beitrittsgegner gewandelt. Wichtigster Fürsprecher der Türkei bleibt damit Spanien. Welche Blüten auf der anderen Seite der türkische Nationalismus inzwischen wieder treibt, hat die Ermordung Hrant Dinks sehr schmerzlich bewusst gemacht – generell ist das Klima in der Türkei für Zugeständnisse an Europa schlecht.

Die geopolitische Bedeutung der Türkei hat sich nach 1989 stark gewandelt, ohne aus westlicher Sicht geringer geworden zu sein. Die Türkei liegt inmitten des Konfliktdreiecks Südosteuropa/ Naher Osten/Kaukasus. In allen diesen Konfliktregionen stimmen die türkischen und europäischen Interessen im Wesentlichen überein. Darüber hinaus spielt die Türkei eine entscheidende Rolle für die europäische und sogar die transatlantische Energiesicherheit aufgrund der Transitfunktion für fossile Rohstoffe aus der Kaspischen Region.

Und auch in wirtschaftlicher Hinsicht scheinen die Beitrittsskeptiker einen entscheidenden Denkfehler zu machen: Auch ohne den Beitritt zur EU wird die Türkei nicht nur als Absatzmarkt, sondern auch als Produktionsstandort in den nächsten Jahren weiter an Bedeutung gewinnen. Mit einer jährlichen Wachstumsrate von über zehn Prozent in den letzten drei Jahren reift die Türkei zu einem nicht nur strategisch, sondern auch ökonomisch äußerst bedeutenden Staat heran, den man in wenigen Jahren deutlich lieber in die EU integriert als vor ihren Toren stehend sehen würde.

Denn diese wirtschaftliche Prosperität wird nicht nur positive Folgen für Europa haben, und gerade mit Blick auf einen möglichen Export von Arbeitsplätzen kann die Einbeziehung der Türkei in den Prozess der europäischen Integration schon in wenigen Jahren viel stärker im Interesse der EU als im Interesse der Türkei liegen, wenn es darum geht, europäische Sozialstandards und Wettbewerbsbedingungen durchzusetzen.

Die EU muss sich fragen, ob sie mit ihrer aktuellen Türkeipolitik nicht eines ihrer wichtigsten Bündnisse aufs Spiel setzt. Letztendlich ist der Beitritt der Türkei zur EU noch immer im beiderseitigen Interesse. Der Weg dahin muss aber für beide Seiten gangbar bleiben.

Dass auch die Türkei bereit bleibt, diesen Weg pragmatisch zu gehen, dazu hat, wenn alles gut geht, der nationalistische Terror vielleicht einen Beitrag geleistet: Indem klar wird, dass Nationalismus als Ideologie die Türkei an den Abgrund führt.

Der Autor ist Direktor der Stiftung Zentrum für Türkeistudien in Essen.

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