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Leere Reihen im Bundestag

© dpa

Parlamentsreform: Die Abgeordneten werden entmündigt

Im Bundestag sollen nur noch die Fraktionen entscheiden, wer reden darf. Mal abgesehen davon, dass das der Demokratie schadet, spielen die Initiatoren auch noch ihren politischen Gegnern in die Hände: den Piraten.

Herbert Wehner hätte wohl seine Freude an dem Vorhaben gehabt. Die Fiktion des freien Abgeordneten, nur dem Gewissen verpflichtet und nicht der Fraktion, stimmte schon nicht, als der Zuchtmeister der SPD noch sein einschüchterndes Regiment führte. Zwar sind die Fraktionen nicht einmal im Grundgesetz erwähnt, doch in der parlamentarischen Maschinerie regelt die Fraktionsspitze genauestens, wer seine Stimme erheben darf. Abweichler – nein danke. So ergibt es sich, dass die Bänke im Bundestag häufig leer bleiben, weil selbst die Abgeordneten Besseres zu tun haben, als absehbaren Debatten zu folgen. Zugleich machen die Wähler aus Verdruss die Piraten immer stärker.

Die großen Parteien ignorieren das. Stattdessen wollen sie im Berliner Abgeordnetenhaus wie auch im Bundestag die Abgeordneten zusätzlich einengen. Im Präsidium des Abgeordnetenhauses wird eine Änderung der Geschäftsordnung erwogen, um den als verroht empfundenen Umgangston zu ahnden – der besonders Piraten angelastet wird. Wie lebendig ein Parlament sein darf, um der Meinungsbildung zu dienen, spielt dabei eine geringe Rolle. Das Parlament hat keinen Abgeordnetenknigge nötig, sondern kundige Debatten, bei denen es Streit in der Sache gibt.

Die geplante Änderung der Geschäftsordnung im Bundestag treibt die Entrechtung der Volksvertreter auf die Spitze, obwohl sie vor allem auf Parlamentspräsident Norbert Lammert zielt. Wenn der zweithöchste Repräsentant der Republik nicht mehr das Recht haben soll, auch Abweichlern Rederecht zu erteilen, dann mögen sich ostdeutsche Abgeordnete an die Volkskammer erinnert fühlen. Absurd ist, dass Lammert abgestraft werden soll, weil er im September 2011 auch zwei Gegner eines Euro-Rettungsschirms aus CDU und FDP zu Wort kommen ließ – gegen den Willen der Fraktionsspitzen. Jeder Abgeordnete wird entmündigt, wenn das Recht zur Abgabe einer mündlichen Erklärung von einer unseligen CDU/CSU-SPD-FDPKoalition abgeschafft wird.

Weht die Piratenflagge bald noch höher?

Auch die Mehrheit muss aushalten, dass es im Parlament abweichende Überzeugungen gibt – und mit besseren Argumenten gegenhalten. Es ist nachgerade die Pflicht des Parlamentspräsidenten, auch Abweichler zu Wort kommen zu lassen – das gebietet die Gewaltenteilung. Der Verdacht der Gleichschaltung kommt auf, wenn sich zum Beispiel in den Euro-Debatten die im Volk vorhandenen Meinungen nicht mehr im Parlament wiederfinden. Scheinheilig ist es, wenn Fraktionschefs von SPD und CDU rügen, mit der persönlichen Erklärung verschafften sich Abgeordnete kleinerer Parteien ungerechtfertigt zusätzliche Redezeit. Es geht um mehr.

Pluralismus ist eine verfassungsrechtliche Pflicht. Dass auch Abweichler ein Rederecht haben, hat einst ein aus der Grünen-Fraktion ausgeschlossener Abgeordneter beim Bundesverfassungsgericht erkämpft. Eine wehrhafte Demokratie darf keine Wagenburg sein, sondern muss auch im Bundestag Flagge zeigen – mit Argumenten, nicht mit Sprechverboten. Sonst flattert die Piratenflagge bald noch höher.

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