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Meinung: Pillen für die Reichen

WAS WISSEN SCHAFFT Auch zwanzig Jahre nach seiner Entdeckung ist das Aids-Virus nicht zu stoppen. Die Kennzahlen der Epidemie stoßen inzwischen an die Grenze des menschlichen Vorstellungsvermögens – werden aber als irrationale Bedrohung mehr und mehr verdrängt: Weltweit sind derzeit 40 Millionen Menschen mit HIV infiziert, in wenigen Jahren werden es 100 Millionen sein.

WAS WISSEN SCHAFFT

Auch zwanzig Jahre nach seiner Entdeckung ist das Aids-Virus nicht zu stoppen. Die Kennzahlen der Epidemie stoßen inzwischen an die Grenze des menschlichen Vorstellungsvermögens – werden aber als irrationale Bedrohung mehr und mehr verdrängt: Weltweit sind derzeit 40 Millionen Menschen mit HIV infiziert, in wenigen Jahren werden es 100 Millionen sein. Allein in Afrika wird die Seuche bis zum Ende dieses Jahrzehnts 20 Millionen Kinder zu Waisen gemacht haben, mit erschreckenden sozialen Konsequenzen. Wenn kein Wunder geschieht, wird sich die afrikanische Tragödie danach in Indien, China und Teilen der ehemaligen Sowjetunion wiederholen.

Bereits heute steht fest: Aids wird mehr Tote fordern als alle anderen Seuchen der Menschheitsgeschichte zusammen. Die Welt-Aids-Kongresse hatten als Waffenschauen der Wissenschaft begonnen, nun verkommen sie mehr und mehr zu dekadenten Medienspektakeln. Die Stars der Forscherszene, die einmal die Entwicklung von Impfstoffen und Gegenmitteln „in fünf bis zehn Jahren“ angekündigt hatten, sind abgekämpft und ratlos.

Wundersame Lebensverlängerung

In der vergangenen Woche debattierte beim Aids-Kongress in Barcelona die groteske Menge von 17 000 Teilnehmern; gleichzeitig raffte das tödliche Virus weltweit rund 50 000 Menschen dahin. Muss die Forschung vor Aids kapitulieren?

Nein – es ist noch viel schlimmer: Die Forscher haben wirksame medizinische Waffen entwickelt. Die können jedoch den am schwersten betroffenen Regionen der Erde nicht helfen. Ein Grund: Die Medikamente sind für Entwicklungsländer zu teuer, deren Gesundheitssysteme wären auch mit der aufwendigen begleitenden Betreuung der Patienten überfordert.

Den zweiten Grund hören Forscher und Pharmamanager ungern: Sie haben sich jahrzehntelang auf die Entwicklung von Mitteln konzentriert, die sich praktisch nur in Industrieländern anwenden lassen. Das Ergebnis ist die „antivirale Kombinationstherapie“: Mit ihr kann man die Lebensdauer HIV-Infizierter fast wundersam verlängern.

Diese Wunderpillen, die lebenslang eingenommen werden müssen und pro Patient und Jahr etwa 15 000 Dollar kosten, sind jedoch ohne Hightech-Labor und medizinische Infrastruktur nicht anwendbar: Die Aidsforschung ist dabei, die Schlacht gegen das Virus daheim zu gewinnen – und den globalen Krieg gegen die Seuche zu verlieren.

An billigen, für die Dritte Welt geeigneten Aids-Mitteln wurde nur halbherzig und mit zu wenig Budget geforscht. Ein Impfstoff zum Beispiel ist nach wie vor nicht in Sicht – auch deshalb, weil sich für die großen Pharmakonzerne die Entwicklung eines Produktes nicht lohnt, das höchstens einen Dollar kosten darf und pro Patient nur einmal angewendet wird.

„Kondome“ für Frauen

Vernachlässigt wurde auch die Vorbeugung mit Vaginalzäpfchen und -gelen, mit denen sich Frauen beim Verkehr diskret vor Ansteckung schützen könnten. Diese so genannten „Mikrobizide“ haben gegenüber Kondomen zwei entscheidende Vorteile: Erstens ist in vielen betroffenen Ländern die Bereitschaft zur Prävention bei Frauen wesentlich höher als bei Männern. Zweitens könnten Mikrobizide auch bei Kinderwunsch angewendet werden.

Obwohl Forscher die Entwicklung von Mikrobiziden gegen HIV bereits in den 80er Jahren gefordert hatten – auch der Autor gehörte dazu –, hat sich bis heute kein großer Pharmakonzern darum gekümmert: Mikrobizide sind zu billig, zu einfach nachzumachen und wegen möglicher Schadensersatzforderungen für Industrieländer kaum geeignet.

Erst vor zwei Jahren kam die Forschung an Mikrobiziden in Gang: in staatlichen Laboren und kleinen Firmen, finanziert mit Spendengeldern von Rockefeller und Bill Gates.

Der Aids-Fonds, den die Vereinten Nationen jetzt planen, benötigt mindestens zehn Milliarden Dollar jährlich, je die Hälfte für antivirale Medikamente und medizinische Infrastruktur. Wie es aussieht, wird höchstens ein Drittel davon zusammenkommen – viel zu wenig für die teure Kombinationstherapie.

Gäbe es heute einen Impfstoff oder ein Mikrobizid, könnten die bisher gesammelten drei Milliarden Dollar ausreichen, um die globale Katastrophe abzuwenden – und um gleich noch dazu einige notleidende Pharmabetriebe zu sanieren. Doch diese Marktchance haben die Forschungsmanager leider verschlafen.

Der Autor ist Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Foto: Jacqueline Peyer

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