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Platzeck im Wortlaut: "Bereitschaft zu tätigem Neubeginn"

Im „Spiegel“ schreibt Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck über den richtigen Umgang mit der SED-Vergangenheit:

Alle postdiktatorischen Gesellschaften stehen vor demselben Grundproblem: Wie weit sollen belastete Gruppen von Menschen in die neue demokratische Gesellschaft integriert werden? Mir ist bewusst: Wer die Aufarbeitung von Diktaturen miteinander vergleicht, der bewegt sich auf dünnem Eis. Schnell ist die Unterstellung bei der Hand, hier wolle einer gleichsetzen, was unterschiedlich war. Dem ist mit dem Historiker Heinrich August Winkler knapp entgegenzuhalten: „Vergleichen heißt nicht gleichsetzen, sondern nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten fragen.“ Fragt man in diesem Sinne, dann begreift man: Die gelungene Demokratisierung, die Westdeutschland nach 1945 sehr zügig zu einem anerkannten Staat unter Gleichen machte, konnte überhaupt nur unter der Voraussetzung gelingen, dass ehemalige Mitläufer und, wo verantwortbar, selbst Täter des Nationalsozialismus nicht dauerhaft ausgegrenzt blieben, sondern einbezogen wurden.

So unverdächtigen Akteuren wie Kurt Schumacher, der im Nationalsozialismus fast ein Jahrzehnt im Konzentrationslager gelitten hatte, stand dies schon in der Frühphase der Bundesrepublik klar vor Augen. Bereits im Oktober 1951 – nur sechs Jahre nach dem Krieg! – empfing der SPD-Vorsitzende zwei frühere hohe Offiziere der Waffen-SS zu einem Gespräch, die jetzt als Funktionäre der „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit“ die Interessen ehemaliger Soldaten der Waffen-SS vertraten. Als daraufhin eine internationale Organisation jüdischer Sozialisten Protest erhob, erwiderte Schumacher, viele der 900 000 Überlebenden der Waffen-SS seien gegen ihren Willen in diese Organisation eingezogen worden. (...)

Was bereits Kurt Schumacher verstand, wird in der heutigen Literatur zur Geschichte der Bundesrepublik durchweg als paradoxe Bedingung für den Erfolg der jungen Bundesrepublik herausgearbeitet: „Dies war das politische ‚Kunststück‘ der bundesdeutschen Vergangenheitspolitik“, schreibt der Historiker Edgar Wolfrum, „die gesellschaftliche und politische Verfassung der Bundesrepublik als Negation des Nationalsozialismus zu etablieren und gleichzeitig die ehemaligen NS-Täter, Belasteten und Mitläufer zu integrieren.“ Der seit 1990 vereinigten Bundesrepublik ist zwar eine bemerkenswerte, richtige und bessere Aufarbeitungsleistung gelungen – eine vergleichbare Integrationsleistung bis heute jedoch nicht. Quer durch die ostdeutsche Gesellschaft zieht sich auch nach 20 Jahren noch immer – und sogar wieder zunehmend – ein ungesunder Riss. (...)

Dabei darf es nicht bleiben. Es sollen mehr Menschen werden, die sich an unserem demokratischen Gemeinwesen beteiligen, weil sie sich ihm zugehörig fühlen. Ob wir die richtigen Lehren aus der Geschichte ziehen, erweist sich deshalb weniger in ritualisierter Vergangenheitsbewältigung als in unserer Bereitschaft zu tätigem Neubeginn. Wer sich dazu bereitfindet, muss Demokraten willkommen sein.

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