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Meinung: Poesie im Falkplan

Pascale Hugues, Le Point

Den Straßen der Großstadt sollte man nicht trauen. Oft haben mir die Straßen, in denen ich gelebt habe, Streiche gespielt. In London wohnte ich in einer von kleinen roten Ziegelhäusern gesäumten Straße. Eine Straße wie eine Skisprungschanze, die einen Hang hinaufkletterte und sich auf den Höhen der großen Stadt ins Leere stürzte. Ihr einziger Fehler: Sie hieß Nelson Road. Jeden Tag von neuem demütigte es mich, dass ich in der Umgebung eines Admirals wohnen musste, der die Franzosen bei Trafalgar geschlagen hatte. Als ich meiner jamaikanischen Nachbarin das Herz ausschüttete, lachte sie mein Problem einfach weg. „Nelson – aber damit ist doch Nelson Mandela gemeint!“ Sie versöhnte mich mit meiner Straße. Ich habe dort noch lange mit geretteter Ehre gelebt.

Als ich nach Bonn zog, bot ein Makler mir die ideale Wohnung an: großzügig, sonnig, zentrale Lage. Ruhige Nachbarn, die um acht Uhr abends die Rollläden herunterließen und die Polizei riefen, wenn Partygäste es wagten, nach 23 Uhr lauthals zu lachen. Ich wollte gerade den Mietvertrag unterschreiben, als der Makler mir sagte, welchen Namengeber die Straße hatte: Adolfstraße. Nein! Keine Nachbarin hätte es geschafft, mich von den üblen Assoziationen zu diesem tabuisierten Vornamen zu befreien, und so zog ich in die untadelige Thomas Mann-Straße.

In Berlin gibt es geradezu verlogene Straßen. Ihre Namen enthalten Versprechungen, die auf keinen Fall eingehalten werden können. Nehmen wir die Paradiesstraße. Ist das Paradies etwa zwischen der Buntzelstraße und einem Autobahnzubringer eingeklemmt? Oder die berühmte Sonnenallee, die ich vorigen Montag bei Regen entlanggefahren bin. Nein, das ewige Glück suche ich bestimmt nicht hier. Vorsicht auch bei den beiden Venusstraßen – die von Alt-Glienicke mündet in den Birnenweg und streift die Siedlung Eigenheim II. Eine fürwahr aphrodisische Nachbarschaft! Zwischen Saturnstraße und Merkurstraße spricht die Reinickendorfer Venusstraße nicht von Liebe, sondern von Astrologie.

Andere Straßen sind in der heutigen Zeit der drohenden Epidemien richtig gefährlich. Vögel müssen um jeden Preis gemieden werden. Aus dem Weg gehen sollte man dem Truthahnweg, der Vogelzeile und dem Wildganssteg. Nicht einmal der Spatzensteig ist immun. Verboten ist auch die Katharinenstraße, wo der Wind stärker bläst als anderswo.Manche Straßen entbehren jeglicher Poesie, und das Leben muss hier trist sein: der Viereckweg, die Tunnelstraße, die Geradestraße oder all die Straßen, die nur eine Nummer tragen. Straße 339. Straße 120. Hier läuft die Phantasie in die Sackgasse.

Manche Straßen sind einfach lächerlich. Die Adresse Spinatweg wird beim anderen jedes Mal einen Lachanfall auslösen. Auch die autoritären Straßen gefallen mir nicht: Kadettenweg, Magistratsweg, Pionierstraße, Ritterfelddamm, ebenso wenig wie die missionierenden Straßen. Ich ziehe dem Predigergarten den Lustgarten vor.

Gewinner und Rekordhalter ist in Berlin die Wilhelmstraße mit allen ihren Varianten: Straße, Weg, Platz, Aue, Berg etc. Es gibt 27 Wilhelms in Berlin. Um die 40, wenn man die Kaiser noch dazu nimmt. 40 Kaiser-Wilhelm- gegen eine Schröderstraße.

In das dichte Gewebe der Berliner Straßen sind aber auch kleine Edelsteine eingenäht. Straßen wie Märchen: Schneewittchenweg, Hänsel-Gretel-Steig, Rapunzelstraße. Wie gern würde man nachts im Glühwürmchenweg spazieren gehen. Einen roten Umhang nehmen und durch den ZwergNase-Weg trippeln. Und das Glück in der Kleeblattstraße und im Maikäferpfad suchen.

Manche Straßen sind wie für mich geschaffen. Würde ich in der Allee Saint Exupéry, der Jean Jaurès Straße, an der Place Molière oder in der Rue Diderot wohnen, wie würde ich mich bei meinen verehrungswürdigen Landsleuten zu Hause fühlen! Über die beiden Sedanstraßen in Spandau bzw. in Steglitz würde ich großzügig hinwegsehen. Kreuzberg sei das Waterlooufer und die Waterloobrücke verziehen. Obwohl ein Bahnhof in London wirklich genug ist!

Besser gefallen mir die bukolischen Straßen. Kirschenbaumstraße, Hagebuttenhecke, Fingerhutweg erinnern an die Zeit, als Berlin noch ein großes Dorf war. Minzeweg und Quittenweg – schlichte und gut riechende Straßen. Mein Favorit ist der Alpenrosenweg. Er passt überhaupt nicht nach Treptow, ein ebener Stadtteil, der durch den Teltowkanal zerteilt wird. Die Nachbarinnen dieser Straße sind ebenfalls charmant: Aprikosensteig, Orchideenweg, Glockenblumenweg. Ich war noch nie im Alpenrosenweg. Aber in einem Knick meines Falkplans, senkrecht V-W, waagerecht 7, hört man Jodeln und das Geläute von Kuhglocken.

Aus dem Französischen von Elisabeth Thielicke.

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